Zitationsvorschlag für Schlüsseltext: Scherr, Albert (2012): Diskriminierung: Die Verwendung von Differenzen zur Herstellung und Verfestigung von Ungleichheiten. Vortrag 36. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Plenum Diversity und Intersektionalität. URL: www.portal-intersektionalität.de [Datum Zugriff]

Diskriminierung: Die Verwendung von Differenzen zur Herstellung und Verfestigung von Ungleichheiten

Albert Scherr

Eine Gemeinsamkeit der sozialwissenschaftlichen Diskurse, die durch die Begriffe Diversität und Intersektionalität markiert sind, besteht in dem Interesse, Einsichten der Ungleichheitsforschung, der Geschlechterforschung sowie der Ethnizitäts- und Rassismusforschung in eine hinreichend komplexe Theorie sozialer Ungleichheiten, von Verteilungs-, Macht- und Anerkennungsverhältnissen zu integrieren (s. als Übersicht zum Stand der Debatte Lutz/Herrera Vivar/Supik 2010; Müller 2011; Salzbrunn 2012; Weischer 2011: 415ff.). Dazu wird argumentiert, dass Klasse, Geschlecht, Ethnizität und „Rasse“ als zentrale, historisch und systematisch ineinander verschränkte Ungleichheitslagen verstanden werden können, denen Klassenverhältnisse, Geschlechterhierarchien und Hegemonien zwischen dominanten und untergeordneten sozialen Gruppen entsprechen (s. u.a. Klinger/Knapp/Sauer 2007; Knapp 2012; Schwinn 2007: 88ff.; Winker/Degele 2009). Die erhebliche empirische Plausibilität, die Analysen für sich beanspruchen können, die von dieser Grundannahme ausgehen, soll hier nicht bestritten werden. Dennoch aber gibt es Gründe  danach zu fragen (s.u.), ob es zureichend ist, von Klasse, Geschlecht, Ethnizität und „Rasse“ als Kernbegriffen auszugehen, und ist es fraglich, ob eine gesellschaftseinheitliche und stabile Struktur von Klassenverhältnissen, Geschlechterverhältnissen und Hegemonien zwischen Mehrheit und Minderheiten angenommen werden kann.

Damit ist darauf hingewiesen, dass die Thematisierung von Diversität und Intersektionalität eine weitreichende Herausforderung für die soziologische Gesellschaftstheorie darstellt (vgl. Knapp 2012: 441f.). Darauf bezogen wird im Folgenden der Versuch unternommen, die soziologische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Ungleichheit, Diversität und Intersektionalität mit den Mitteln soziologischer Differenzierungs- und Diskriminierungstheorien weiterzuentwickeln. Hintergrund dessen ist erstens ein Verständnis von (struktureller, institutioneller und interaktioneller) Diskriminierung als Prozess, durch den gesellschaftlich (auf der Ebene von Semantiken, Diskursen, Ideologien und Institutionen) etablierte kategoriale Unterscheidungen von Personenkategorien und sozialer Gruppen zur Herstellung, Begründung und Legitimation von Positionszuweisungen in den Strukturen sozialer Ungleichheiten verwenden werden (s. Scherr 2010). Zweitens wird argumentiert, dass soziale Ungleichheiten (im Plural) unter Bedingungen funktionaler Differenzierung als Moment der Strukturbildung gesellschaftlicher Teilsysteme zu bestimmen sind, dass also nicht von einer, sondern von komplex miteinander verknüpften Strukturen sozialer Ungleichheiten auszugehen ist (vgl. Schwinn 2007: 46ff.). Drittens versuche ich zu zeigen, dass es nicht zureichend ist, von einer gesellschaftseinheitlichen Bedeutung von Klasse, Geschlecht, Ethnizität und „Rasse“ als Merkmale auszugehen, die für Positionszuweisungen in den Strukturen sozialer Ungleichheiten bedeutsam sind. Der vorliegende Beitrag zielt damit auf eine Verknüpfung von Ungleichheitstheorie, Diskriminierungstheorie und Differenzierungstheorie – und handelt sich damit zweifellos erhebliche Komplikationen ein.1

1. Class, Gender, Ethnicity/Race als gesellschaftseinheitliche Strukturkategorien?

Versuche, die Ungleichheiten der Lebensbedingungen, der Verteilungs-, Macht und Anerkennungsverhältnisse (s. Fraser 2003; Ritsert 2009: 146ff.), mit den Mitteln von Klassen bzw. Schichtungstheorien zu beschreiben, stellen erkennbar eine Verkürzung dar, die mit systematischen Ausblendungen relevanter Aspekte der Struktur sozialer Ungleichheiten sowie der gesellschaftlichen Unterscheidung ungleicher und ungleichwertiger Gruppen und der damit verbundenen Zuweisung sozialer Positionen einhergeht.  Darauf wird seit einiger Zeit – nicht zuletzt in Anknüpfung an feministische und antirassistische Diskurse – in unterschiedlichen Kontexten  hingewiesen: Die sozialwissenschaftliche Intersektionalitätsforschung (s. u.a. Aulenbach/Riegraf 2012; Klinger/Knapp/Sauer 2007; Lutz/Herrera Vivar/Supik 2010; Winker/Degele 2009), die Diversity Studies (s. u.a. Adams u.a. 2000; Krell/Riedmüller/Sieben/Vinz 2007; Allemann-Ghionda/Bukow 2011) sowie der politische und rechtliche Antidiskriminierungsdiskurs (s. u.a. Bielefeldt 2010; Scherr 2010) verweisen – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – auf die Bedeutung der Geschlechterverhältnisse und von sexueller Identität, von Rassismus und Ethnisierung, Religion und Weltanschauung sowie von Ungleichheiten und Machtasymmetrien zwischen Altersklassen, Behinderten und Nicht-Behinderten. In der neueren Ungleichheitsforschung (s. Kreckel 2006; Beck 2010) wird zudem auf die Bedeutung von Staatsangehörigkeit als für ungleiche Lebensbedingungen in der Weltgesellschaft hoch folgenreiches Merkmal hingewiesen. In seinem Beitrag zur Exklusionsdebatte hat Claus Offe (1996) darüber hinaus auch auf die Bedeutung des Strafrechts für die Generierung von Ungleichheitslagen verwiesen.

Damit ist zunächst – in Fortführung feministischer und antirassistischer Diskurse – auf die Notwendigkeit einer Perspektivenerweiterung hingewiesen: Versuche, Ungleichheiten der Lebensbedingungen und deren Folgen zu beschreiben, müssen mehr als die Aspekte berücksichtigen, die in tradierten Ungleichheitstheorien vorgesehen sind und zudem der Tatsache Rechnung tragen, dass diese sich in komplexer Weise überlagern (können).2 Diese mit empirischen Beobachtungen problemlos plausibilisierbare Überlegung wirft für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung erhebliche Schwierigkeiten auf: Denn es handelt sich ersichtlich um eine durchaus unübersichtliche Gemengelage von Differenzierungslinien3, für die zunächst anzunehmen ist, dass ihre relative Bedeutung abhängig ist von institutionellen Kontexten und situativen Rahmungen sowie sich für soziale Gruppen unterscheiden. Zudem bereitet es bekanntlich erhebliche Schwierigkeiten zu klären, in welchem Sinne es sich bei den jeweiligen ungleichheitsrelevanten Differenzen um gesellschaftliche Strukturen bzw. um Effekte von gesellschaftlichen Strukturen handelt; oder aber „nur“ um die Folgen von Klassifikationen, Institutionen und Praktiken,  die inzwischen als Diskriminierungstatbestände anerkannt sind und durch geeignete politische und rechtliche Maßnahmen überwunden werden können, ohne dass dies die fundamentalen Strukturen der Gesellschaft in Frage stellt.4

Im politischen und rechtlichen Antidiskriminierungsdiskurs findet sich, zwar ganz untheoretisch, aber hoch folgenreich, durchaus eine Antwort auf die damit aufgeworfene Frage: Dort werden gegenwärtig zwar Ethnizität, Religion, „Rasse“, Geschlecht und sexuelle Orientierung, Alter und Behinderung als Gründe unzulässiger Diskriminierung genannt. Nicht genannt werden dort jedoch Benachteiligungen aufgrund der sozialen Klasse, und die Diskriminierung zwischen Staatsangehörigen und Nicht-Staatsangehörigen wird ausdrücklich vom Diskriminierungsverbot ausgenommen (s. Scherr 2010).  Demnach wären Klassenstrukturen und Strukturen des Territorialstaates Kernstrukturen, deren Ungleichheitseffekte politisch und rechtlich als unantastbar gelten. Diese Beobachtung kann aber eine theoretische Klärung zweifellos nicht ersetzen.5

Im Hinblick auf die genannten Schwierigkeiten lassen sich in den Sozialwissenschaften im Kern zwei unterschiedliche Reaktionen beobachten:

1) Eine erste Reaktion verwendet die Kategorien der Diversity- und der Ungleichheitsforschung als Heuristiken für die intersektionelle empirische Forschung, als sensitizing concepts für qualitative und quantitative Studien (s. etwa Adams u.a. 2000; Leiprecht/Lutz 2005; Riegel 2010). Dies eröffnet ein breites Spektrum von zweifellos produktiven Forschungsmöglichkeiten, deren Interesse sich auf die ungleichheitsgenerierende Bedeutung von Unterscheidungen in jeweiligen Situation, Kontexten und Konstellationen richtet (vgl. Schwinn 2007: 102ff.). Die Frage nach der strukturellen Verankerung und relativen Bedeutung jeweiliger Differenzierungslinien muss hierzu nicht vorab und theoriegeleitet beantwortet werden; sie kann von jeweiligen Fragestellungen und empirischen Indizien abhängig gemacht werden. Ein solcher Verzicht auf eine übergreifende gesellschaftstheoretische Rahmung erlaubt eine empirisch fundierte Überprüfung etablierter Gesellschaftsbilder tradierter soziologischer Theorien und kann mit Collins (2012) als Beitrag zu einer mikrosituativen Fundierung soziologischer Theoriebildung verstanden werden. Gleichwohl ist es jedoch nicht gänzlich unproblematisch, Klasse, Geschlecht, Ethnizität (und weitere Kategorien) ohne eine (gesellschafts-)theoretische Klärung als Strukturkategorien vorauszusetzen und Antworten auf die Frage nach ihrer jeweiligen (Irr-)Relevanz allein auf der Grundlage empirischer Analysen zu beantworten. Denn es Bedarf einer theoretischen Rahmung, um die Ergebnisse empirischer Studien, die sich jeweils auf Interaktionen, Situationen, Gruppen, Netzwerke, Institutionen oder Organisationen beziehen, in ihrer Relevanz und Reichweite einordnen zu können. Zudem wird die Problematik einer unzureichenden theoretischen Fundierung etwa in der immer noch durchaus gängigen, theoretisch naiven Verwendung ethnischer Klassifikationen in der empirischen Forschung deutlich (s. kritisch Brubaker 2007; Scherr 2000), oder im angelsächsischen Kontext in den Kontroversen um die Zulässigkeit von Indikatoren, mit denen als Race definierte Zugehörigkeiten erhoben werden.6

2) Davon deutlich zu unterscheiden sind Versuche, Klasse, Geschlecht und Ethnizität bzw. Race sowie ggf. Körper (s. Klinger 2003; Knapp 2005; Klinger/Knapp/Sauer 2007; Winkler/Degele 2009; Weischer 2011: 415ff.) als für die Reproduktion sozialer Ungleichheiten zentrale sowie strukturell verankerte Differenzlinien zu bestimmen. Zur Begründung wird argumentiert, so bei Regina Becker-Schmitt (2007: 60), dass „Geschlechterhierarchien, Klassenantagonismen und Hegemonien zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheitsgesellschaften“ (sowie bei Winker/Degele 2009: Bodyismen:) historisch und gegenwärtig zentrale gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse sind. Bei Klinger (2003) werden diese Herrschaftsformen als Kapitalismus, Imperialismus und Patriarchat gefasst. In unterschiedlichen Varianten (s. als Überblick Aulenbacher/Meuser/Riegraf 2012: 11ff.; Winker/Degele 2009: 25ff.) wird dies mit Versuchen verbunden, den inneren Zusammenhang dieser Herrschafts- und Ungleichheitsdimension aus ihrer Rückbindung an die Struktur kapitalistischer Reproduktion abzuleiten. Akzentuiert wird dabei insbesondere ihre Verbindung mit der gesellschaftlichen Teilung von ökonomischer Produktionsarbeit und familialer Reproduktionsarbeit sowie den Ungleichheitsverhältnissen auf dem kapitalistischen Weltmarkt. Der entscheidende Vorteil dieser Strategie der Theoriebildung liegt m. E. darin, dass es ihr gelingt, die genannten Ungleichheitsdimensionen nicht nur additiv zu verknüpfen, sondern aufzuzeigen, dass ihre gesellschaftliche und ihre individuelle Bedeutung mit der Struktur kapitalistischer Ökonomie verschränkt sind.

Es kann jedoch nicht darauf verzichtet werden, zumindest drei Einwände gegen die damit - zweifellos sehr knapp und verkürzt charakterisierte - Perspektive zu formulieren:

Vor diesem Hintergrund ist die Relevanz von Theorien, die Klasse, Geschlecht und Ethnizität auf der Grundlage von Analysen der Struktur kapitalistischer Reproduktion als zentrale und ineinander verschränkte Dimensionen sozialer Ungleichheit bestimmen, zwar nicht generell in Frage gestellt. Dennoch aber gibt es, wie gezeigt, Gründe, in der dort eingenommenen Position eine Vereinfachung zu sehen, die mit der Annahme einer einheitlichen, alle gesellschaftlichen Teilbereiche übergreifenden Bedeutung von Klassenverhältnissen, Rassismus und Sexismus/Heteronormativität operiert und deshalb die Komplexität der Verschränkungen sozialer Differenzierungslinien mit der Reproduktion und Transformation sozialer Ungleichheiten nicht zureichend berücksichtigen kann. Zudem ist es plausibel, die Berücksichtigung weiterer Dimensionen (insbesondere von Staatsbürgerschaft, aber auch des formalen Bildungsniveaus sowie von körperlicher und psychischer Gesundheit) einzufordern.

Im Weiteren sollen Elemente eines Theoriemodells skizziert werden, das die genannten Problemlagen berücksichtigt.

2. Diskriminierung und Ungleichheiten im Kontext funktionaler Differenzierung

Als Ausgangspunkt ist es hierfür hilfreich, (in Anknüpfung an Becker-Schmidt 2007: 60ff. und Tilly 1999 und 2005; vgl. Wright 2000) zwischen Ungleichheitslagen, die in die Gesellschaftsstruktur verankert sind und den darauf bezogenen Praktiken der Positionierung zu unterscheiden. Diskriminierung kann darauf bezogen als Verwendung gesellschaftlich etablierter kategorialer Unterscheidungen von Personenkategorien und sozialen Gruppen zur Begründung und Rechtfertigung von Positionierungspraktiken verstanden werden (s. Scherr 2010). Dies geschieht auf der Grundlage kategorialer Einteilungen und damit verbundenen Zuschreibungen von Eigenschaften und Fähigkeiten. Dabei kann ein nicht-beliebiger Zusammenhang zwischen Ungleichheitsverhältnissen und der Verwendung diskriminierender Unterscheidungen angenommen werden. Denn Gesellschaften mit Strukturen sozialer Ungleichheit erzeugen in dem Maß einen Bedarf an diskriminierenden Klassifikationen, wie sie dem ungleichheitsbezogenen Legitimationsbedarf nicht durch meritokratische Versprechungen gerecht werden können.8 Mit Charles Tilly (2005: 71ff.) kann weiter angenommen werden, dass diskriminierende Unterscheidungen deshalb eng mit dauerhaften, langfristigen stabilen Ungleichheiten verschränkt sind, weil sie mit mächtigen Interessen verbunden sind sowie von Organisationen verwendet werden können, um Entscheidungsprobleme zu lösen und ihre Ergebnisse zu rechtfertigen.  Positionen sozialer Gruppen im Gefüge der sozialen Ungleichheiten sind so betrachtet nicht allein ein Effekt der sozialen Vererbung ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals und seiner strategischen Verwendung, sondern auch von diskriminierenden Klassifikationen und darauf basierender Zuordnungen und Positionierungspraktiken.9

Mit der vorgenommenen Unterscheidung von Ungleichheitsstrukturen und diskriminierenden Klassifikationen stellt sich die Frage, von welchen Strukturen sozialer Ungleichheiten und von welchen Korrespondenzen und Wechselwirkungen zwischen diesen und diskriminierenden Unterscheidungen auszugehen ist. In einer differenzierungstheoretischen Perspektive kann diesbezüglich – anders als in neomarxistischen Klassentheorien – nicht von einer singulären, primär ökonomischen Ungleichheitsstruktur ausgegangen werden, die konstitutiv mit Geschlechterhierarchien und Rassismus verschränkt ist. Vielmehr legt eine differenzierungstheoretische Perspektive ein Verständnis sozialer Ungleichheiten als Folge der Inklusions- und Exklusionsordnungen sowie von Hierarchien nahe, die jeweilige Funktionssysteme und ihre Organisationen kennzeichnen (s. Bommes 2005; Luhmann 2000; Schwinn 2007). So betrachtet erzeugen Nationalstaat, Politik, Ökonomie, Recht, Bildungssystem und Gesundheitssystem, aber auch andere Teilsysteme (etwa: Religion, Massenmedien) je eigene Ungleichheitsordnungen, die als Zugangsregulierungen zur Organisationen, als Hierarchien in Organisationen sowie als daran geknüpfte Privilegien bzw. Nachteile in Hinblick auf Einkommen, Status und Macht sichtbar werden. Ungleichheiten zwischen Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern, Besitzenden und Besitzlosen, Wohlhaben und Armen, politisch Mächtigen und Ohnmächtigen, Gebildeten und Ungebildeten, Anspruchsberechtigten und Nicht-Anspruchsberechtigen, Leistungsfähigen und Behinderten sind demnach in die Struktur der Teilsysteme eingelassen und stellen das Bezugsproblem dar, auf das diskriminierende Klassifikationen und Positionierungen bezogen sind (vgl. Luhmann 1997: 630).

Damit ist ein Verständnis sozialer Ungleichheiten, das Klassenlagen bzw. Schichtungspositionen annimmt, die für Zugangsregulierungen, Positionszuweisungen und Karrierechancen in allen gesellschaftlichen Teilbereichen gleichermaßen folgenreich sind, in Frage gestellt. Dies zwingt aber keineswegs dazu, die Annahme preiszugeben, dass es in Hinblick auf die Lebensbedingungen und Lebenschancen von Individuen hoch folgenreiche Wechselwirkungen und Verkoppelungen zwischen Positionen in den Teilbereichen gibt, die sich nicht zuletzt als Folgen der staatlichen Regulierung des Zugangs zu (legalen) Arbeitsmärkten und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, als direkte und indirekte Auswirkungen von Vermögen und Einkommen auf die Chancen in allen gesellschaftlichen Teilbereichen sowie als Auswirkungen von Bildungskarrieren auf Arbeitsmarktchancen, politische Partizipationsmöglichkeiten usw. beschreiben lassen. Eine differenzierungstheoretische Perspektive zwingt so betrachtet nicht dazu, auf den Klassenbegriff als Strukturkategorie zu verzichten; sie begründet vielmehr „nur“ Skepsis gegenüber der Annahme, dass ökonomische Klassenlagen Positionen in allen anderen Teilbereichen determinieren. Vielmehr muss es als erklärungsbedürftig gelten, warum und wie ungleiche Positionen in einem Teilsystem Auswirkungen auf Positionierungen von Individuen in anderen Teilsystemen haben.

Dazu bieten vorliegende systemtheoretische Analysen bislang keine zureichenden Überlegungen an (s. dazu die Beiträge in Schwinn 2004 sowie Schwinn 2007). Da eine systematische Beschreibung der Effekte von Positionen in Teilsystemen auf die Lebensführung und die Lebenschancen von Individuen jedoch nicht vorliegt, können systemtheoretische Analysen Theorien sozialer Ungleichheit nicht ersetzen, sondern sind auf Rückgriffe auf die Konzepte und Daten von Theorien sozialer Ungleichheit verwiesen.10 Dies hängt m. E. auch damit zusammen, dass der strukturellen Koppelung aller Teilsysteme mit dem Wirtschaftssystem gewöhnlich zu wenig Rechnung getragen wird (vgl. Schimank 2009): In dem Maße, wie Bildung, Recht, Wissenschaft, Religion und andere Teilsysteme auf Organisationen angewiesen sind, für die es erforderlich ist, Ressourcen, Waren und Arbeitskräfte gegen Zahlungen zu beschaffen, handelt es sich um Organisationen, die immer auch wirtschaftlich operieren sowie hierarchisch gegliederte Leistungsrollen mit ungleicher Bezahlung ausstattet. Insofern existiert zwischen den Funktionssystemen ein organisationsvermittelter Cash Nexus – Organisationen operieren immer auch wirtschaftlich – und sind verfügbare Einkommen für die individuelle Lebensführung immer dann relevant, wenn Leistungen in Funktionssystemen an Zahlungen gebunden sind. Zwar ist unter Bedingungen funktionaler Differenzierung nicht alles käuflich, die Eindämmung von Käuflichkeit ist vielmehr eine Bedingung funktionaler Differenzierung  (s. Luhmann1994: 236ff.); gleichwohl hat die Verfügung über mehr oder weniger Geld zweifellos erhebliche direkte und indirekte Auswirkungen auf die Lebensbedingungen und Lebenschancen.

Beschreibt man die primäre Ordnung sozialer Ungleichheiten als Folge der Strukturen in gesellschaftlichen Teilsystemen, dann folgt daraus weiter, dass Positionszuweisungen nur nach funktionsspezifischen Gesichtspunkten gerechtfertigt werden können. Damit stellt sich für jedes Teilsystem bzw. jede Organisation die Frage, in welchem Verhältnis gesellschaftlich etablierte Unterscheidungskategorien zu den funktionalen Erfordernissen des Teilsystems und seiner Organisationen stehen; also in welchem Maß es also teilsystemisch erforderlich bzw. funktional ist, Alter, Sprache, Geschlecht, Ethnizität, „Rasse“, soziale Herkunft usw. als Kriterien der Zugangsregulierung und der Positionszuweisung zu beanspruchen, oder aber möglich, davon zu abstrahieren. Diese Fragestellung zwingt zu einer genaueren Betrachtung der Bedeutung und Relevanz diskriminierender Einteilungen in den gesellschaftlichen Teilbereichen und ihren Organisationen. Denn es ist keineswegs von vornherein plausibel davon auszugehen, dass diesbezüglich von einer gesellschaftseinheitlichen Logik ausgegangen werden kann. Dies gilt auch im Hinblick auf intersektionelle Verschränkungen von Ungleichheiten.

Um dies exemplarisch zu verdeutlichen: Für Nationalstaaten ist die Unterscheidung Staatsangehörigkeit und Nicht-Staatsangehörigen das zentrale Kriterium für die Zuweisung politischer Beteiligungsrechte und sozialstaatlicher Leistungsansprüche; die Staatsangehörigkeit eines Arbeitnehmers oder Kunden ist ökonomisch aber nicht, oder jedenfalls nur vermittelt über staatliche Regulierungen relevant. Oder: Schulen können zwar verlernen, ethnische Unterscheidungen als relevant zu betrachten, aber aufgrund ihrer Aufgabenstellung nicht, jedenfalls nicht voraussetzungslos, von Unterschieden der sprachlichen Fähigkeiten absehen; dagegen werden sprachliche Differenzen in klassischen Ausbildungsberufen durchaus als nachrangig betrachtet, während ethnorassistischen Kalkülen dort bei der Lehrstellenvergabe eine erhebliche Bedeutung im Hinblick auf innerbetriebliche Erfordernisse und Kundenerwartungen zugesprochen wird. Differenzierungstheoretisch ist es deshalb erforderlich zu untersuchen, wie Organisationen sich auf gesellschaftlich akzeptierte bzw. umstrittene Unterscheidungen beziehen und dadurch soziale Positionierungsprozesse vornehmen.

Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, ob bzw. in welchem Sinne Klasse, Geschlecht, „Rasse“ und Ethnizität, wie üblich, als Strukturkategorien betrachtet werden können. Denn es handelt sich um Kategorien, die keine direkte Entsprechung zu den Ungleichheiten haben, die durch die funktionalen Unterscheidungen der Teilsysteme und Organisationen hervorgebracht werden. Dies wird daran sichtbar, dass geschlechtsbezogene, ethnische und rassistische Diskriminierung in modernen Gesellschaften kritisierbar geworden ist und dass solche Kritik inzwischen Bestandteil der politischen Programmatik der EU und global operierender Konzerne ist. Dies gilt ersichtlich nicht für die Unterscheidungen nach Staatsangehörigkeit und auch nicht für Vermögens- und Einkommenunterschiede: deren Überwindung steht nicht auf der Agenda etablierter Anti-Diskrimierungs- und Diversity-Diskurse. Vor diesem Hintergrund liegt es m.E. nahe davon auszugehen, dass Staatsangehörigkeit, ökonomische Klassenlage sowie beruflich verwertbare Qualifikationen in anderer Weise als ungleichheitsgerierende Strukturkategorien betrachtet werden müssen, wie „Rasse“ und Ethnizität, aber auch Geschlecht: Für die erstgenannten Kategorien gilt, dass sie funktional in die Ungleichheitsordnung gesellschaftlicher Teilsysteme eingeschrieben sind; für „Rasse“ und Ethnizität dagegen, dass es sich um tradierte, aber mehr (Rasse) oder weniger (Ethnizität) umstrittene Semantiken handelt, die weder gesellschaftsstrukturell verankert sind und die auch keineswegs gesellschaftseinheitlich als diskriminierende Unterscheidungen verwendet werden. Im Fall von Geschlecht stellt sich die Situation komplizierter dar: Eine Überwindung der geschlechtsspezifischen Koppelung der Trennung und Hierarchisierung von öffentlicher und privater Sphäre, Produktion und Reproduktion wird – nicht zuletzt aufgrund der rechtlichen Gleichstellung von Männern und Frauen sowie der fortschreitenden Vergesellschaftung der frühkindlichen Erziehung – zunehmend möglich und damit die strukturelle Grundlage der alten Geschlechterordnung brüchig. Zweifellos sind Geschlechterunterscheidungen aber nach wie vor eine hoch folgenreiche Grundlage der Familienordnung, der Strukturierung des Bildungssystems und des Arbeitsmarktes.

3. Folgerungen

Damit zeichnet sich eine Konstellation ab, in der stabile Ungleichheitslagen mit mehr oder weniger instabilen Formen der Diskriminierung verschränkt sind. Soziologische Forschung und Theoriebildung ist in dieser Konstellation nicht nur Beobachter, sondern auch ein Akteur, der auf politische Prozesse und mediale Diskurse einwirkt, so in der Form von Politikberatung, Expertisen für politische Institutionen und als Ko-produzent gesellschaftlich einflussreicher Sichtweisen der sozialen Wirklichkeit. Insofern ist erforderlich, nach den Aufgabenstellungen von Soziologie im gegenwärtigen Diversity- und Anti-Diskriminierungsdiskurs zu fragen. Dazu abschließend eine knappe Anmerkung: Ersichtlich handelt es sich um hoch politisierte Diskurse, für die der Anspruch grundlegend ist, Prinzipien einer universalistisch verstandenen, menschenrechtlich fundierten Moral als Grundlage der Gesellschaftsgestaltung zu beanspruchen. Dies bietet zweifellos Anknüpfungspunkte für ungleichheitskritische Position in der Soziologie, Chancen für diese, auf politische, rechtliche und pädagogische Auseinandersetzungen einzuwirken. Die Aufgabe kritischer Soziologie kann dabei jedoch nicht allein darin bestehen, die Infragestellung tradierter diskriminierender Unterscheidungen und Klassifikationen ideologiekritisch voranzutreiben – und auch innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses – ethnisierende und geschlechtsbezogene Stereotype weiter zu delegitimieren. Darüber hinaus ist es erforderlich, die strukturellen und institutionellen Diskriminierungsmechanismen zu analysieren, die auch dann noch zu einer Reproduktion gruppenbezogener Benachteiligungen in gesellschaftlichen Teilsystemen und Organisationen führen, wenn tradierte Semantiken und Ideologien gesellschaftlich delegitimiert sind. Die Analyse struktureller und organisatorischer Mechanismen, mit denen Differenzierungen in Ungleichheiten transformiert werden, muss zudem eine Kritik der folgenreichen Ausblendungen des gegenwärtig dominanten Diversity- und Anti-Diskriminierungsdiskurses ebenso umfassen wie eine Reflexion der potenziellen Verstrickungen soziologischer Kritik in die Erzeugung einer meritokratischen Legitimation struktureller Ungleichheiten. Dies betrifft etwa die geringe soziologische Kritik an der meritokratischen Illusion, ein reformiertes Bildungssystem wäre in der Lage, eine leistungsgerechte Zuweisung von Chancen zu ermöglichen; aber auch die Mitwirkung der Soziologie an der Ausblendung von Staatlichkeit und staatlichen Grenzziehungen an der Verfestigung ungleicher Lebenschancen.

Fussnoten:

1) Die damit eingenommene Perspektive geht (einerseits) in Distanz zu Theorien, die auf eine gesellschaftstheoretische Fundierung verzichten und ihr Interesse auf eine Analyse interaktiver und situativer Praktiken der Herstellung, Inszenierung und Verwendung von Differenzen fokussieren. In Abgrenzung zu neomarxistischen Varianten der Intersektionalitätsforschung wird andererseits akzentuiert, dass es erforderlich ist, von Strukturen sozialer Ungleichheit auszugehen, die sich nicht zureichend als Voraussetzungen und Folgen sozioökonomischer Klassenlagen beschreiben lassen.

2) Bereits bei Goffman (1980/1994: 93) werden „Alter, Geschlecht, Klasse und ethnische Zugehörigkeit“als „vier wichtige diffuse Statuskategorien“ gefasst und angenommen, dass diese „ein Raster sich überschneidender Linien“ bilden, in dem jedes Individuum durch seinen Bezug auf jede der vier Statuskategorien verortet werden kann“.

3) Helma Lutz und Rudolph Leiprecht  haben 15 „hierarchische Differenzlinien“ unterschieden, die für ein angemessenes Verständnis von Diversität relevant sind; s. Leiprecht/Lutz 2005: 219f.

4) Dass auch die Frage, was denn die fundamentalen Strukturen der Gesellschaft sin,d in der Soziologie bekanntlich nicht einheitlich beantwortet wird und die anhaltende Aufspaltung in Ungleichheitstheorie und Theorien funktionaler Differenzierung, erleichtert die Suche nach Antworten auf die aufgeworfenen Fragen ersichtlich nicht.

5) Sie provoziert jedoch die Frage nach der Nähe und Distanz sozialwissenschaftlicher Diskurse zu den politischen Modernisierungsanstrengungen, die im Antidiskriminierungsdiskurs zum Ausdruck kommen.; s. dazu Scherr 2013.

6) S. etwa die aktuelle Auseinandersetzung über die angemessenen statistische Erfassung von Hispanics als Race oder Ethnie im US-Census (http://www.sueddeutsche.de/politik/bevoelkerungspolitik-in-usa-hispanics-gelten-als-eigene-rasse-1.1442247).

7) Die meines Erachtens massivsten Verdichtungen von Ungleichheiten liegen in Deutschland im Fall von undokumentierten Migrant/innen sowie von Migrant/innen ohne verfestigten Aufenthaltsstatus vor.

8) Dieses Problem kann aus zumindest zwei Gründen nicht zureichend durch meritokratische Konzepte gelöst werden: Erstens entziehen sich die Ungleichheiten, die durch die Zufälligkeiten der Geburt in einem Staat bedingt sind, jeder meritokratischen Rechtfertigung. Zweitens sind, so Alfred Schütz (1957/2011: 225) in jeder Gesellschaft mehr Menschen für privilegierte Positionen geeignet oder qualifizierbar, als es privilegierte Positionen gibt.

9) Die diskriminierende Verwendung sozialer Klassifikationen ist damit in dreifacher Weise folgenreich: Sie erzeugt, mit Nancy Fraser (2003) gesprochen, Ungleichheiten sowohl auf der Ebene der Anerkennungsverhältnisse, als auf der Ebene der Verteilungsverhältnisse. Zudem etabliert sie Identitätszuschreibungen, die, wie schon Alfred Schütz (1957/2011: 215) gezeigt hat, dazu führen, dass Individuen durch „das Auferlegen (einer Identität sich selbst entfremdet und wie austauschbare Repräsentanten von typisierten Merkmalen … behandelt“ werden. Folglich muss soziologische Kritik über die im Diversity-Diskurs gängige Forderung nach Anerkennung von Vielfalt hinausgehen.

10) Anders formuliert: Der argumentative Rückgriff auf  Theoreme und Daten der Ungleichheitsforschung ist kein zureichendes Substitut für eine systematische differenzierungstheoretische Ungleichheitstheorie.

Zum Autor:

Albert Scherr, Prof. Dr. habil., lehrt am Institut für Soziologie der Pädagogischen Hochschule Freiburg.

Arbeitsschwerpunkte: Diskriminierungsforschung; Soziologie der Migrationsgesellschaft; Bildungsforschung; Soziologie der Sozialen Arbeit.

 

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