Zitationsvorschlag für Schlüsseltext: Scambor, Elli / Scambor, Christian / Zimmer, Fränk (2012): Die intersektionale Stadt. Interdisziplinäre Zugänge und intersektionale Analysen am Beispiel des Sozialwissenschaft- und Medienkunstprojekts Intersectional Map. URL: www.portal-intersektionalität.de [Datum Zugriff]

Die intersektionale Stadt

Interdisziplinäre Zugänge und intersektionale Analysen am Beispiel des Sozialwissenschaft- und Medienkunstprojekts Intersectional Map

 

von Elli Scambor, Christian Scambor und Fränk Zimmer1

 

Carol Hagemann-White verweist im Vorwort zum Buch „Die intersektionelle Stadt. Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit“ (Scambor/Zimmer 2012) darauf, dass Intersektionalität „im Zuge von ‚mainstreaming‘“ (Hagemann-White 2012: 9) Gefahr läuft, zur „Leerformel“ (Hagemann-White 2012: 9) zu werden. „(W)ährend die Theoriedebatten die Komplexität und Vielfalt der in ihrem Zusammenwirken zu berücksichtigenden Aspekte unaufhörlich steigern“ (Hagemann-White 2012: 9) sind der Datenerhebung nach wie vor zumeist Grenzen gesetzt (Zeit, Ressourcen), wodurch die „Auswertung zwangsläufig auf eine überschaubare Zahl von Merkmalen begrenzt“ (Hagemann-White 2012: 9) bleibt.

In diesem Beitrag soll ein Weg aufgezeigt werden, wie sich die Diskrepanz zwischen einer zunehmenden Differenzierung und Komplexität in Theoriediskursen und den bescheidenen Möglichkeiten bei der Erfassung der komplexen sozialen Realität im Rahmen der angewandten Sozialforschung überwinden lässt. Es geht nicht darum, einer zunehmenden Differenzierung und Verknüpfung sozialer Merkmale mit immer komplexeren sozialwissenschaftlichen Modellen und Methoden zu begegnen, sondern Intersektionalität – in der Bedeutung von Überschneidung und Zusammenwirken – kann auch bedeuten, verschiedene Zugänge und Aktivitäten des Erkenntnisgewinns, der Interpretation und des Handelns in der sozialen Welt (Wissenschaft, Kunst, Praxis) anhand eines gemeinsamen Ausgangspunktes zusammenzubringen und ein Phänomen aus den jeweils unterschiedlichen Perspektiven und Traditionen heraus zu bearbeiten.

 

Sozialforschung und Medienkunst

Mit dem in den Jahren 2008 – 2009 in Graz (Österreich) durchgeführten Sozialwissenschaft- und Medienkunstprojekt Intersectional Map wurde versucht, der Diversität und Komplexität sozialer Wirklichkeit, in diesem Fall der Stadtnutzung und Konstitution von Stadtraum, auf unterschiedlicher Weise zu begegnen. In der Zusammenarbeit von Sozialforschung und Medienkunst wurde das Potential verortet, soziale Wirklichkeit interaktiv erfahrbar machen zu können. Beide Disziplinen, so Werner Jauk (2012), beschäftigen sich im Wesentlichen mit Strategien der Lebensbewältigung eines relativ konstanten Körpers in einer sich beständig verändernden Umgebung. Beiden Disziplinen ist zudem das „Medium Wahrnehmung“ (Jauk 2012: 123) zentral, das zwischen Körper und Umwelt vermittelt. Während die Sozialwissenschaft die Konstruktion von Phänomenen beobachtet und damit „einen Ausschnitt festlegt“ (Jauk 2012: 124), beschäftigt sich die Medienkunst in stärkerem Maße mit der Neugestaltung von Phänomenen und ihren Umwelten.

In diesem Sinne wurden in der Intersectional Map mit „Partizipation und Prozesshaftigkeit“ (Scambor/Zimmer 2012: 23) wesentliche Charakteristika der Medienkunst und zugleich relevante Aspekte der Aktionsforschung umgesetzt, mit dem Zweck, einen neuen Zugang zur intersektionalen Analyse heterogener Stadträume zu erschließen. Die Medienkunst konzentrierte sich dabei darauf, mithilfe ihrer spezifischen Wahrnehmungspotentiale und Tools, sozialwissenschaftlich generierte Daten einer interessierten (und vorab beforschten) Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Sozialforschung stand vor der Herausforderung, das generierte Datenmaterial auf ungewöhnliche und experimentelle Weise „verarbeiten“ zu müssen gleichzeitig bestand aber auch die Chance, in der interdisziplinären Arbeit mit der Medienkunst neue Potentiale und Möglichkeiten eines intersektionalen Zugangs zur Stadtnutzung erschließen zu können. Die Transformation der Daten wurde zur gemeinsamen Aufgabe. (Vgl. Scambor/Zimmer 2012: 23)

„Geschlecht, sozioökonomische Lage und Migrationshintergrund, die für die Datenerhebung als feste Kategorien operationalisiert werden mussten, werden im Zuge dieser auf Teilhabe und Mitwirkung angelegten Forschung verflüssigt.“ (Hagemann-White 2012: 11)

Im Projekt Intersectional Map2, das räumliche Stadtstrukturen als heterogene Räume thematisierte und diese als „spezifische Ausprägung des Gesellschaftlichen… in enger Verknüpfung mit der Diversität der Lebensumstände unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen erfasst(e)“ (Scambor/Zimmer 2012: 25), wurde in der empirische Studie mit 1650 BewohnerInnen der Stadt Graz die Konstitution von Stadtraum als Alltagshandlung (alltägliche Wege und Orte) ihrer BewohnerInnen betrachtet. Der disproportionalen Schichtung der Stichprobe lagen die Kategorien Geschlecht, Migrationshintergrund und Alter zugrunde. Diese bildeten u.a. die Analysekategorien der soziologischen Studie.

Insgesamt wurden in diesem Wissenschafts- und Kunstprojekt folgende Zugänge vereint: Die soziologische Studie lieferte empirische Daten. Diese Daten wurden in ein speziell dafür entwickeltes Softwaretool eingespeist und danach als interaktive virtuelle Map für eine interessierte Öffentlichkeit aufbereitet. Die Erkundung des virtuellen Stadtraums durch die BesucherInnen erfolgte durch die Verknüpfung sozialer Merkmale (Gender, Alter, Migration, Einkommen, Bildung). Während der Projektlaufzeit (2008 – 2009) bildete die Intersectional Map über Public Terminals und Schaufenster im Stadtraum von Graz und über die Projekthomepage3 ein erkundbares Environment. Durch den Gebrauch der Medieninstallationen im Stadtraum wurden – analog zur Studie – virtuelle Orte mit optischer und akustischer Manifestation erzeugt. (Vgl. Scambor/Zimmer 2012)

Von Beginn an hat ein unterschiedlicher Zugang zur Wahrnehmung (Beobachtung, Konstruktion) in beiden Disziplinen die Zusammenarbeit in starker Weise geprägt. Insbesondere in den Überlegungen zur Transformation sozialwissenschaftlicher Daten in den Kontext einer Medieninstallation fand eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Denkansätzen und Wahrnehmungspotentialen beider Disziplinen statt. Und genau darin liegt das Potential dieser Zusammenarbeit für das intersektionale Paradigma: In dem Maße, in dem die Transformation auf partizipative und prozesshafte Weise gelang, war es möglich, die „festen“ Analysekategorien der sozialwissenschaftlichen Analyse künstlerisch und diskursiv zu „verflüssigen“, um so den interessierenden Phänomenen angemessen begegnen zu können.

Wie die folgenden Ausführungen zeigen, erfolgte die Auseinandersetzung mit Stadtraum und Stadtraumnutzung im Projekt zunächst als intersektionale Makroanalyse, in der mit traditionellen sozialwissenschaftlichen Methoden gearbeitet wurde. In einem weiteren Schritt wurde anhand der medienkünstlerischen „Bearbeitung“ der Daten das in der interdisziplinären Arbeit schlummernde Potential für das intersektionale Paradigma verortet.


Angewandte intersektionale Analyse am Beispiel der Intersectional Map

In umfassenden intersektionalen Analysen werden Winker und Degele (2009) zufolge die zu erforschenden Phänomene idealerweise auf drei Ebenen betrachtet: Struktur, symbolische Repräsentation und Identität. Die Komplexität des intersektionalen Paradigmas lässt sich in der empirischen Sozialforschung aber nur selten in zufriedenstellender Weise umsetzen. Häufig wird in Studien auf eine der Analyseebenen fokussiert. Im Verbund mit anderen Arbeiten, die sich demselben Untersuchungsgegenstand auf anderen Ebenen und mit anderen Methoden nähern, wird dann trotz dieser Einschränkung ein wesentlicher Beitrag zu einer umfassenden Analyse geleistet (vgl. Scambor/Scambor 2012: 43 ff.). Dies gilt auch für die sozialwissenschaftliche Analyse im Projekt Intersectional Map, die auf der Struktur-Ebene angesiedelt ist, jener Ebene, auf der sich Winker und Degele (2009) zufolge „Herrschaftsverhältnisse entlang der Kategorien Klasse, Geschlecht, Rasse und Körper“ (Winker/Degele 2009: 38) differenzieren lassen. Bereits diese Formulierung verweist darauf, dass die Verwendung sozialer Kategorien in intersektionalen Makroanalysen wohl unvermeidbar ist (vgl. Walgenbach 2012), wobei die in der Analyse verwendeten, vorab definierten Kategorien als provisorisch und vorläufig angesehen und nur analysestrategisch eingesetzt werden, die Konstruktionen also nicht mit der sozialen Realität verwechselt werden (vgl. Scambor/Scambor 2012). Mit diesem Ansatz wird dem Einwand begegnet, die Analyse reproduziere ungehindert gesellschaftliche Ungleichverhältnisse entlang sozialer Kategorien: Durch die Verwendung der Kategorien in der Analyse werden sie vorläufig zwar fortgeschrieben, aber es wird in erster Linie der Einfluss und die Relevanz dieser Konstrukte nachgewiesen. Solange die Kategorien helfen, bestehende Ungleichheitsstrukturen zwischen Menschen aufzudecken, kann auf sie nicht verzichtet werden. Gleichzeitig sollte bei der Definition und Verwendung von Kategorien immer auf ihre jeweils spezielle Unzulänglichkeit und Komplexitätsreduktion hingewiesen werden. Bei der Erhebung und Analyse der Intersectional Map-Daten wurden z.B. nur die Geschlechtergruppen männlich und weiblich verarbeitet, aus der Erhebung der Staatsbürgerschaft(en) wurde Migrationshintergrund abstrahiert etc. Die vergleichende statistische Analyse von Multigroups (vgl. McCall 2005) wurde durch diese Komplexitätsreduktion erst möglich, wenngleich die Beschränkung dieses Zugangs evident ist: Andere als die begrifflich-forschungsstrategisch vordefinierten Phänomene können in dieser Zone des „Puzzles“, mit dem Gesellschaft wissenschaftlich-symbolisch modelliert werden soll, auch nicht erkannt werden. Darauf ist hinzuweisen.

Der Annahme folgend, „… dass das Ausmaß an sozialer Ungleichheit in der städtischen Gesellschaft eine räumliche Ausprägung besitzt“ (Stöger/Weidenholzer 2007: 91), wurde die alltägliche Erschließung der Stadt als Ressource definiert, die sich unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen auf verschiedene Weise erschließt. Indikatoren, die die Stadtnutzung abbildeten (Anzahl aufgesuchter Orte pro Tag, täglich zurückgelegte Weglängen, durchschnittliche Weglängen zwischen zwei aufgesuchten Orten), wurden daher im Zuge der intersektionalen Makroanalyse als abhängige Variablen (AV) definiert, die mit unabhängigen Variablen (UV) wie Geschlecht, Migration oder sozio-ökonomischer Lage in Zusammenhang gebracht wurden. Es wurde davon ausgegangen, dass diese unabhängigen Variablen letztendlich Herrschaftsverhältnisse zum Ausdruck bringen (vgl. Bourdieu 1991; Dangschat 2000; Häußermann/Siebel 2004; Löw 2001), die sich im Bewegungsverhalten der Menschen in der Stadt widerspiegeln. Dieser Grundgedanke führte zu Fragestellungen nach Verknüpfungen von unabhängigen Variablen und Stadtnutzung, sowie zu Theorien, die diese Verknüpfungen sinnvoll erklären konnten. So konnte z.B. das Analyseergebnis, dass Frauen durchschnittlich eine höhere Anzahl von Orten aufsuchten als Männer, mit dem Konzept der Doppelten Vergesellschaftung von Frauen (vgl. Becker-Schmidt 1987; Becker-Schmidt/Knapp 2001) in Zusammenhang gebracht werden. Mit Blick auf Vergesellschaftungsprozesse von Individuen, in denen sich das Geschlecht als soziale Praxis in Familienernährer-Zuverdienerinnen-Modellen auf der Mikroebene der Haushalte manifestiert, wurden Merkmalskombination in die Analysen einbezogen, die auf Reproduktionserfordernisse verwiesen, z.B. die Variable Kinder unter 14 Jahren im gemeinsamen Haushalt. Wie in Abbildung 1 veranschaulicht, liegt die Anzahl der täglich aufgesuchten Orte bei Frauen mit Kindern unter 14 Jahren im gemeinsamen Haushalt höher als bei Frauen ohne Kinder unter 14 Jahren im gemeinsamen Haushalt. Bei Männern hat die Kategorie Kinder unter 14 Jahren im gemeinsamen Haushalt keinen Einfluss auf die Anzahl der täglich aufgesuchten Orte.4

Abbildung (1). Durchschnittliche Anzahl von aufgesuchten Orten pro Tag nach Geschlecht und in Abhängigkeit davon, ob Kinder unter 14 Jahren im Haushalt lebten; Auswahl: Personen ohne Migrationshintergrund.

Anmerkungen. Auf der x-Achse ist die Information aufgetragen, ob Kinder unter 14 Jahren im Haushalt leben. Auf der y-Achse ist die durchschnittliche Anzahl von aufgesuchten Orten pro Tag aufgetragen.

Eine Detailanalyse der angegebenen Orte zeigt, dass der höhere durchschnittliche Wert der abhängigen Variable Anzahl aufgesuchter Orte bei Frauen vor allem auf reproduktionsarbeitsbezogene Orte („Spielplatz“, „Kinderbetreuungseinrichtung“, etc.) zurückgeführt werden kann. Bei Männern dominieren Orte mit Erwerbsarbeitsbezug („Arbeitsplatz“). Diese Veränderung der „Brennweite“ durch Wechseln von der strukturellen auf die individuelle Ebene macht den Analysebefund auf der Makro-Ebene noch deutlicher. In den Abbildungen 2 und 3 sind typische Mobilitäten (Alltagsorte und Wege) von Frauen und Männern mit Kindern unter 14 Jahren im gemeinsamen Haushalt veranschaulicht (Auswahl: Personen mit Nicht-EU-Migrationshintergrund).

Abbildung (2) Fallbeispiel: Wegekette einer Frau mit Migrationshintergrund (Türkei), mit Kindern unter 14 Jahren, wohnhaft in einem Bezirk mit hohem Migrationsanteil

Quelle: Scambor/ Scambor 2012: 64

 

Abbildung (3) Fallbeispiel: Wegekette eines Mannes mit Migrationshintergrund (Türkei), mit Kindern unter 14 Jahren, wohnhaft in einem Bezirk mit hohem Migrationsanteil

Quelle: Scambor/ Scambor 2012: 64

Was in der Literatur als fragmentierte und klassenspezifische Stadtteile beschrieben wird (vgl. Häußermann/Kapphan 2002), zeigte sich in den Analyseergebnissen im Hinblick auf die Variable Migrationshintergrund. Der Anteil von MigrantInnen aus Nicht-EU-Ländern war in bestimmten Bezirken höher als in anderen, und sie hatten deutlich kürzere Gesamtwegelängen als Personen ohne Migrationshintergrund, was als Hinweis auf lokale soziale Netzwerke bei MigrantInnen gedeutet wurde. Längere Gesamtweglängen bei ÖsterreicherInnen wurden im Gegensatz dazu als Hinweis auf entlokalisierte soziale Netzwerke und eine (im Durchschnitt) umfassendere Nutzung des Stadtraumes gedeutet.

„Diese Befunde sprechen für das Vorliegen von eher lokalen räumlich-sozialen Netzwerken (d.h. etwas weniger Orte, kürzere Wege, geringere Gesamtwegstrecken pro Tag) bei Nicht-EU-Migrantinnen und -Migranten in Migrationsbezirken, im Gegensatz zu den eher entlokalisierten Netzwerken von Personen ohne Migrationshintergrund (d.h. Österreicher und Österreicherinnen bewegten sich über ein größeres Gebiet, suchten etwas mehr Orte auf und hatten dadurch auch höhere Gesamtweglängen).“ (Scambor/Scambor 2012: 63)

(Für eine ausführliche Darstellung der Analyseergebnisse vgl. Scambor/Scambor 2012.)

 

Wahrnehmung komplexer sozialer Wirklichkeit durch medienkünstlerische Prozesse

„Das Subjekt erkundet den Wissensraum, aktiviert und realisiert diesen in vielen Fällen aber auch erst im Prozess dieser Erkundung. Erst durch das interessegeleitete, zum Teil auch intuitive Handeln des Subjektes werden dann Daten zusammengestellt, Strukturen sichtbar gemacht und Informationen als solche verfügbar. Der Benutzer wird zum eigenen Denken, Erforschen, Handeln aufgefordert.“ (Strauss/Zschocke 2004)

Dieser Prämisse folgend, wurden die sozialwissenschaftlichen Daten in den virtuellen Raum transferiert (Java-Anwendung und MySQL Datenbank) und als Webinterface für den privaten Raum aber auch als Medienkunstprojekt im Stadtraum von Graz realisiert, als Kunstprojekt im öffentlichen Raum, das auf Daten dieser Öffentlichkeit, nämlich der Grazer BewohnerInnen, basiert. Medieninstallationen (Schaufenster, Public Terminals), die zwischen 2008 und 2009 durch unterschiedliche Stadtteile von Graz „wanderten“ stellten der Grazer Bevölkerung ein „zu explorierendes Environment“ (Scambor/Zimmer 2012: 32) zur Verfügung, das die Erkundung der Mobilitäten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen ermöglichte und dabei Achsen sozialer Ungleichheiten (vgl. Klinger/Knapp/Sauer 2007) sichtbar machte. Die BesucherInnen der Installation im öffentlichen Raum, auch die Beforschten selbst, wurden nun selbst zu „ForscherInnen“, die mit der virtuellen Map ihre eigenen Bewegungsmuster und jene ihrer MitbürgerInnen erkundeten. Einer konstruktivistischen Perspektive folgend, wurde die Nutzung der Stadt durch die alltäglichen sozialen Praktiken ihrer BewohnerInnen (Alltagswege und bedeutsame Orte) zum Ausdruck gebracht (vgl. Löw 2001). Dadurch erschließt sich den BesucherInnen der Intersectional Map ein Stadtraum, der in die Vielfältigkeit der Stadtnutzung durch Personen mit unterschiedlichen sozialen Merkmalskombinationen Einblick gewährt. Der intersektionale Raum erschließt sich folglich mit Blick auf die Diversität der StadtbewohnerInnen.

Die medienkünstlerische Realisierung und Transformation der Daten ermöglicht dabei einen weiteren Herstellungsprozess: Die BesucherInnen der virtuellen Map können im Prozess der Erkundung unterschiedliche Merkmalskonfigurationen filtern. Die Erforschung sozialer Komplexität in der Stadtnutzung lässt sich beispielsweise auf intrakategoriale (vgl. McCall 2005) Weise (z.B. Differenzen innerhalb von Geschlechtergruppen) und auf interkategoriale Weise (Ungleichheitsbeziehungen zwischen unterschiedlichen sozialen Merkmalsgruppen) bewerkstelligen, indem die vereinfachten, Komplexität reduzierenden Kategorien aus der quantitativen Analyse benützt werden. Ein Beispiel dazu: Das Filtern der sozialen Merkmale Geschlecht und Migration zeigt, dass sich bedeutsame alltägliche Orte von Migrantinnen aus Nicht-EU-Ländern und Österreicherinnen deutlich voneinander unterscheiden. Darüber hinaus lassen sich bei MigrantInnen aus Nicht-EU-Ländern relativ wenige Querungen über den Fluss (Mur) feststellen. Die Mur fungiert als geographischer Raumteiler, der die Stadt Graz in zwei sehr unterschiedliche Bereiche unterteilt (traditionell bürgerlicher Teil vs. traditionelle Arbeiterbezirke).

Durch die Prozesse der Filterungen vielfältiger Merkmalskombinationen entstehen immer wieder neue Bilder auf der virtuellen Map. Die NutzerInnen „betreten“ die virtuelle Stadt, steuern möglicherweise die ihnen vertrauten Wege und Orte an und haben die Möglichkeit, sich selbst in Relation zu anderen Personengruppen zu positionieren.

„Dabei bildet das visuelle Szenario ‚Wirklichkeit‘ nicht ab, sondern ist selbst Ergebnis von Konstruktionsprozessen.“ (Walgenbach 2012: 89)

Genau darin erschließt sich der neue Weg in der praktischen Umsetzung und Ausgestaltung des intersektionalen Paradigmas. Während sich die sozialwissenschaftliche Analysen in der Regel darauf beschränkt, die Konstruktion von Phänomenen zu beobachten und im Kontext von Theorien zu interpretieren (z.B. indem Doing Difference-Prozesse fokussiert werden, vgl. Fenstermaker/West 2001), verfügt Kunst in höherem Maß über einen zusätzlichen Freiraum und Gestaltungsspielraum. Es handelt sich dabei um den individuellen Raum der Wahrnehmung und damit um den Konstruktionsprozess der NutzerInnen der Intersectional Map, die mittels Auswahl und Filterung spezifische Muster über die Stadt legen.

„Die Wissenschaft lernt von den Künsten, dass dieser je subjektive Blick, dieses subjektive Hören und Erfahren von Daten die nächste Ebene im Erkenntnisprozess ist. Also bei aller Formalisierung der Erkenntnis und der Daten ist noch immer eine subjektive Rezeption gegeben. Kunst hat sich mit dieser subjektiven Rezeption und ihrer Formalisierung beschäftigt. Ich fordere ein, sie braucht auch einen nachvollziehbaren methodischen Rahmen, wie sie dorthin gekommen ist. Die Intersectional Map macht das.“ (Jauk: 2012: 132)

Die Ausgestaltung und Umsetzung des intersektionalen Paradigmas lässt sich in der interdisziplinären Arbeit von Sozialwissenschaft und Kunst einlösen, indem die Erkenntnis des sozialwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstands über eine medienkünstlerische Arbeit direkt in den Alltag (in diesem Fall den Alltag der Grazer BewohnerInnen) zurückwirkt und diesen jedenfalls beeinflusst bzw. verändert. Für Jauk (2012) sind dabei sowohl die sozialwissenschaftliche Analyse als auch die künstlerische Darstellung Teile des Rückkoppelungsprozesses: „Also ein Input- und Output-Medium. Dies wird allgemein in der Wissenschaft ignoriert und hier meint Kunst, dies sei ihre Chance. Beide sollten es gleich ernst nehmen.“ (Jauk 2012: 130)

Mit der Überantwortung von „Datenmaterial“, das durch den sozialwissenschaftlichen Zugang konstruiert, bearbeitet und interpretiert worden ist, an die Medienkunst, die daraus Medieninstallationen im öffentlichen Raum erzeugt, findet dieser Prozess der Rückkoppelung statt. Das „Material“ wird dorthin zurückgespielt, wo das interessierende Phänomen, die Konstruktion von städtischem Raum durch Nutzung desselben u.a. erfasst wurde: Auf die Straßen, in die Bibliotheken, Läden und Einkaufszentren von Graz. Auf diese Weise „… erweitert Kunst im öffentlichen Raum nicht nur das Erleben von Alltagsorten, sondern bietet auch die Möglichkeit ‚Lebensrealitäten‘ zu reflektieren ... In diesem Sinne können sich NutzerInnen der Terminals selbst fragen, was es für ihr Leben und für die soziale Geographie ihrer Stadt bedeuten kann, wenn der eigene Alltag hauptsächlich an homogenen Orten stattfindet.“ (Rothmüller 2012: 159)


Grenzüberschreitung: Reflexion und Diskurs

Die Zusammenarbeit beider Disziplinen hat ein eigenständiges Tool entstehen lassen, „… das, über das eigentliche Projekt hinausreichend, einen weiteren Gebrauchs- und Erkenntniswert entwickelt hat, der auf konkrete Veränderungen im Umgang mit öffentlichen Raum abzielt.“ (Scambor/Zimmer 2012: 38) Sowohl die konkrete Erfahrung, dass das intersektionale Paradigma im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit von Sozialforschung und Medienkunst auf innovative Weise eingelöst werden kann, als auch konkrete Ergebnisse der intersektionalen Makroanalyse, insbesondere Hinweise auf soziale Netzwerke, haben den Fokus auf spezifische Fragestellungen gelenkt, die in der Folge erneut im Rahmen von interdisziplinären Projekten an der Schnittstelle von Sozialforschung und Medienkunst realisiert wurden.5

Darüber hinaus hat die interdisziplinäre Arbeit von Sozialforschung und Medienkunst einen Diskurs angeregt, der sich dem Paradigma der Intersektionalität auf einer weiteren Ebene nähert. In den Beiträgen der Anthologie „Die intersektionelle Stadt“ (Scambor/ Zimmer 2012) wird das Projekt selbst zum „Material“, das AutorInnen aus unterschiedlichen Disziplinen (Wissenschaft, Bildung, Kunst) überantwortet wird. WissenschafterInnen und KünstlerInnen diskutieren die interdisziplinäre Arbeit und stellen theoretische Konzepte sowie empirische Ergebnisse von Analysen heterogener Stadträume vor. Aus der Bezugnahme der AutorInnen auf die Intersectional Map, der interdisziplinären Reflexion und dem „grenzüberschreitenden Diskurs“ entstand ein intersektionales Meta-Projekt, dessen Ergebnisse in der Publikation (Scambor/Zimmer 2012) zusammengetragen wurden.

 

Anmerkungen

  1. Soziologin, Psychologe und Medienkünstler (i. d. Reihenfolge).
  2. socialresearch-mediaart.mur.at
  3. www.intersectional-map.mur.at
  4. In Abbildung 1 sind als Beispiel die Verhältnisse für Personen ohne Migrationshintergrund dargestellt. Bei MigrantInnen aus EU-Ländern und bei MigrantInnen aus Nicht-EU-Ländern zeigte sich dasselbe Muster.
  5. Das Projekt social networks (2011) hatte seinen Ausgangspunkt in Ergebnissen der Intersectional Map. socialresearch-mediaart.mur.at/de/projekte

 

Zu den Autor_innen

Mag.a Elli Scambor, Soziologin, Lektorin für geschlechterbezogene Raumsoziologie, Gender Analysen und Intersektionale Analysen sowie Soziologische Grundlagen an Universitäten in Graz. Wissenschaftskoordinatorin im Forschungsbüro der Männerberatung Graz. Forschungsschwerpunkte: Genderanalysen, Diversitätsforschung und Kritische Männerforschung in den Bereichen Stadtraum, Arbeit, Organisation, soziale Netzwerke und Resilienz. Koordination und Durchführung von Forschungsprojekten und Arbeiten an der Schnittstelle von Sozialforschung und Medienkunst. Managing Diversity Expertin. elliscambor.mur.at

Dr. Christian Scambor, geb. 1967, Klinischer und Gesundheitspsychologe, studierte Psychologie an den Universitäten Innsbruck, Wien und Graz. In verschiedenen psychosozialen Feldern tätig (Krisenwohnen für Jugendliche; HIV-Prävention; Männerberatung), sowie in Forschungs- und Evaluationsprojekten auf selbständiger Basis. Mitbegründer der Männerberatung Graz (1996) und der GenderWerkstätte (2001). Von 1996 bis 2005 Geschäftsleitung der Männerberatung. Derzeit arbeitet Scambor im Forschungsbüro der Männerberatung Graz und leitet nationale und EU-Projekte in den Bereichen Männerforschung, Gender Mainstreaming und Evaluation.

Fränk Zimmer, geb. 1972 in Luxemburg, lebt und arbeitet in Graz. Musikwissenschaftliche Studien an den Universitäten Graz und Wien. Seit 2002: zahlreiche Klang- und Medieninstallationsprojekte im öffentlichen Raum und in der Kunst gewidmeten Räumen. Producer ORF musikprotokoll im steirischen herbst. Schwerpunkte aktueller künstlerischer Arbeiten bilden die Verschränkung von Medienkunst und angewandter Sozialforschung und Arbeiten rund um die Langzeitarchivierung von Informationen. fz.mur.at

 

Literatur

Becker-Schmidt, Regina (1987): „Die Doppelte Vergesellschaftung – die doppelte Unterdrückung: Besonderheiten der Frauenforschung in den Sozialwissenschaften“, in: Lilo Unterkircher/Ina Wagner (Hg.), Die andere Hälfte der Gesellschaft. Österreichischer Soziologentag 1985, Wien: ÖGB Verlag, S. 10 – 25.

Becker-Schmidt, Regina/Knapp, Gudrun-Axeli (2001): Feministische Theorien zur Einführung, Hamburg: Junius. Bourdieu, Pierre (1991): „Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum“, in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen (Frankfurter Beiträge, Bd. 2), Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag, S. 25 – 34.

Dangschat, Jens S. (2000): „Segregation“, in: Hartmut Häußermann (Hg.): Großstadt. Soziologische Stichworte, Opladen: Leske & Budrich, S. 209 – 221.

Fenstermaker, Sarah/West, Candace (2001): „Doing Difference Revisited - Probleme, Aussichten und Dialog in der Geschlechterforschung“, in: Bettina Heintz (Hg.): Geschlechtersoziologie (=Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 41), Wiesbaden: VS-Verlag, S. 236 – 249.

Hagemann-White, Carol (2012): „Vorwort“, in: Elli Scambor/Fränk Zimmer (Hg.): Die intersektionelle Stadt. Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit, Bielefeld: transcript, S. 9 – 11.

Häußermann, Hartmut/Kapphan, Andreas (2002): Berlin – von der geteilten zur gespaltenen Stadt? Sozialräumlicher Wandel seit 1990 (2. Auflage), Opladen: Leske & Budrich.

Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter (2004): Stadtsoziologie, Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Jauk, Werner (2012): „Wissenschaft/Kunst – Medien der Erkenntnis“, in: Elli Scambor/Fränk Zimmer (Hg.): Die intersektionelle Stadt. Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit (Interview mit Fränk Zimmer), Bielefeld: transcript, S. 123 – 136.

Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli/Sauer, Birgit (Hg.) (2007): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, Frankfurt/New York: Campus.

Löw, Martina (2001): Raumsoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

McCall, Leslie (2005). „Managing the complexity of intersectionality“, in: Journal of Women in Culture and Society 30 (3), S. 1771 – 1780.

Rothmüller, Ninette (2012): „Die Verflechtung von Kunst und Wissenschaft“, in: Elli Scambor/Fränk Zimmer (Hg.): Die intersektionelle Stadt. Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit, Bielefeld: transcript, S. 147 – 160.

Scambor, Christian/Scambor Elli (2012): „Intersektionale Analyse in der Praxis. Grundlagen und Vorgangsweise bei der Analyse quantitativer Daten aus der Intersectional Map“, in: Elli Scambor/Fränk Zimmer (Hg.): Die intersektionelle Stadt. Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit, Bielefeld: transcript, S. 43 – 78.

Scambor, Elli/Zimmer, Fränk (2012): „Intersectional Map“, in: Elli Scambor/Fränk Zimmer (Hg.): Die intersektionelle Stadt. Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit, Bielefeld: transcript, S. 23 – 42.

Stöger, Harald/Weidenholzer, Josef (2007): Auf dem Weg zur desintegrierten Stadt? – Zum Problem der sozialräumlichen Segregation in Europa. Siehe www.vwbf.at/content/publik/publikpdf/jb07_stoeger_weidenholzer.pdf

Strauss, Wolfgang/Zschocke, Nina (2004): Explore Information / Create Knowledge. Siehe netzspannung.org/media-art/explore-information/

Walgenbach, Katharina (2012): „Intersektionalität als Analyseperspektive heterogener Stadträume“, in: Elli Scambor/Fränk Zimmer (Hg.): Die intersektionelle Stadt. Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit, Bielefeld: transcript, S. 81 – 92.

Winker, Gabriele/Degele, Nina (2009): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld: transcript.

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