Zitationsvorschlag für Schlüsseltext: Sauer, Birgit (2012): Intersektionalität und Staat. Ein staats- und hegemonietheoretischer Zugang zu Intersektionalität. URL: www.portal-intersektionalität.de [Datum Zugriff]

Intersektionalität und Staat

Ein staats- und hegemonietheoretischer Zugang zu Intersektionalität

 

von Birgit Sauer

 

1. Einleitung. Eine politikwissenschaftliche Intersektionalitätsperspektive

Mit dem Artikel 13 des Vertrags von Amsterdam, mit den so genannten „Anti-Diskriminierungsrichtlinien“1 und mit der Kampagne für Diversität und gegen Diskriminierung aus dem Jahr 2003 (Grünbuch 2004) hat die EU-Kommission eine Politik nicht nur die Anerkennung von Differenzen zwischen Menschen institutionalisiert, sondern auch rechtliche Maßnahmen gegen so genannte multiple Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts und Alters, der Behinderung, Ethnizität, Religion und sexuellen Orientierung geschaffen. Die EU-Mitgliedsstaaten haben seither unterschiedliche, nationalen Politiktraditionen folgende staatliche Institutionen etabliert und Gesetze erlassen, die mehrfache Diskriminierungen sanktionieren und Opfer von Diskriminierung (Rechts-)Schutz bieten sollen.

Die EU-Antidiskriminierungs- und Diversitätspolitiken gründen in langen politischen Auseinandersetzungen, an denen Frauenbewegungen wie auch die feministische Theorie und die empirische Geschlechterforschung einen entscheidenden Anteil hatten. Allerdings zeigen erste Studien, dass AkteurInnen europäischer Antidiskriminierungs- und Diversitätspolitik nur selten auf den feministischen Intersektionalitätsdiskurs, also auf die Frage nach dem Zusammenhang unterschiedlicher Diskriminierungsstrukturen und -praxen, Bezug nehmen (Woodward 2005). Und bemerkenswert an den EU-Politiken ist darüber hinaus die Desartikulierung von Klassenunterschieden im EU-europäischen Reigen von Diversitäten.

Diese Entwicklungen machen nicht nur einen politikwissenschaftlichen Zugang zum empirischen Phänomen Diversitäts- und Antidiskriminierungspolitiken, sondern auch politiktheoretische Überlegungen zum Konzept Intersektionalität notwendig. Ich werde im Folgenden eine staats- und hegemonietheoretische Perspektive vorschlagen, die sich mit folgenden Fragen dem Konzept Intersektionalität nähert: Wie konstruiert erstens Staatlichkeit, also staatliche Normen und Institutionen, verschiedene Ungleichheitsformen? Welchen Anteil besitzt Staatlichkeit also an der Erzeugung von Ungleichheit? Wie produzieren und reproduzieren staatliche Arenen zweitens die Überschneidungen, das Interagieren von Ungleichheitsformen? Drittens korrespondiert damit die Frage, wie staatliche Institutionen und Normen – in je historisch unterschiedlichen Kontexten – Ungleichheiten überwinden können bzw. wie sie mit Gleichstellungsbegehren und -forderungen umgehen. Viertens soll dies eine Grundlage dafür schaffen, wie die neuen multiplen Antidiskriminierungspolitiken im Kontext der Transformation von Staatlichkeit zu verstehen und zu bewerten sind.

Das Ziel des Textes ist es also, Intersektionalität als ein politikwissenschaftliches Konzept bzw. Analyseinstrument zu formulieren, denn wie genau Unterschiede interagieren, ist vor allem eine empirische Frage. Im ersten Schritt meiner Überlegungen werde ich als Grundlage für mein Intersektionalitätsverständnis entwickeln, wie gesellschaftliche Ungleichheiten staats- und hegemonietheoretisch konzeptualisiert werden können. Im zweiten Schritt mache ich einen darauf aufbauenden Vorschlag, wie die Überkreuzungen bzw. Verknüpfungen von Ungleichheiten staatstheoretisch zu denken wären. Beide Schritte sollen es ermöglichen, auch politisches Handeln gegen multiple Ungleichheiten zu konzeptualisieren. Daran schließt sich eine herrschaftskritische Reflexion über Antidiskriminierungs- und Diversitätspolitiken an.

 

2. Differenz und Ungleichheit – eine staats- und hegemonietheoretische Perspektive

Im Folgenden werde ich zunächst mein feministisch-materialistisches Staatsverständnis darlegen, das die Basis meines Intersektionalitätskonzepts bildet. Staats- und Hegemonietheorie begreift den Staat nicht nur als bürokratischen Apparat, als rechtliche Instanz oder als liberal-demokratisches Institutionengefüge, sondern erstens als ein soziales Kräftefeld bzw. ein soziales Verhältnis (Poulantzas 1978). Unterschiede und Ungleichheiten sind konflikthafte soziale Verhältnisse, die durch Macht und Herrschaft gekennzeichnet sind, sie sind herrschaftsförmige „Strukturkategorien“ kapitalistisch-patriarchaler Gesellschaften. Der Staat wiederum ist eine politische Form, die diese Ungleichheiten und Widersprüche kapitalistisch-patriarchaler Vergesellschaftung prozediert und zu bearbeiten sucht, oftmals indem er Ungleichheit, Ausschluss und Marginalisierung reproduziert. Der Staat institutionalisiert also gesellschaftliche Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse und macht sie dadurch politisch bedeutsam, denn Bedeutung und Relevanz erhalten Unterschiede nur durch staatliche Klassifikationen und Institutionalisierungen.

Ganz grundlegende Modi der Prozedierung von Widersprüchen und der Reproduktion von Ungleichheiten sind in westlich-liberalen Staaten Trennungen zwischen den gesellschaftlichen Sphären öffentlich und privat, zwischen Staat, Markt und Haushaltsökonomie sowie zwischen Nationalstaaten. Dadurch entstanden historisch spezifische Grenz“regime“, etabliert beispielsweise durch Staatsgrenzen und Staatsbürgerschaft, durch das Ehe- und Familienrecht sowie durch das Eigentumsrecht.

Diese Trennungen zur Herstellung gesellschaftlicher Ordnung korrespondieren mit staatlich institutionalisierten Klassifizierungsprozessen, mit der Klassifizierung von Menschen anhand vergleichsweise arbiträrer Merkmale wie sekundäre Geschlechtsmerkmale oder Hautfarbe. Zusammengefasst ist der Staat ein Modus der Klassifikation und Trennung und mithin Ausdruck von Klassen-, Geschlechter- und Sexualitätsverhältnissen, genauso wie er als Nationalstaat Staatsbürgerschaft definiert und ethnische Ein- und Ausschlüsse produziert (Sauer 2001).

Zweitens sind staatliche Klassifikationen, Institutionen und Normen Kompromisse zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften und Gruppen, Kompromisse, die in sozialen Auseinandersetzungen um die Organisation gesellschaftlicher Ordnung geschmiedet werden und deshalb stets fragil und vorläufig sind. In diesen staatlichen Auseinandersetzungsprozessen entstehen je nationalstaatsspezifische herrschaftsförmige Geschlechter-, Sexualitäts- und ethnische Regime. Doch die Unabgeschlossenheit staatlicher Kompromissbildungen eröffnet stets auch die Möglichkeit der Transformation von Ungleichheitsstrukturen, also der Verschiebung von Klassifikationen und Grenzen.

Staaten manifestieren sich drittens als Diskurse über und Deutungen von sozialen Verhältnissen wie auch als soziale Praxen, mithin als Projekte, die durch spezifisches Herrschaftswissen abgesichert und in sozialen Praktiken „gelebt“ werden müssen. Gemeinsam geteilte Normen, Glaubens- und Überzeugungssysteme über Ungleichheit aufgrund von Geschlecht, Ethnizität, Nationalität, Religion und Klasse bilden die als selbstverständlich begriffene Grundierung jeglicher Staatlichkeit, nach Bob Jessop das staatliche Hegemonialprojekt (Jessop 1994: 44). Diese hegemonialen Sichtweisen werden einerseits in der Zivilgesellschaft mehr oder weniger stabil abgesichert und gelebt, andererseits ist die Zivilgesellschaft auch immer jener Bereich, in dem anti-hegemoniales Wissen erarbeitet und anti-hegemoniale Praxen erprobt werden. Auch diese Staatsperspektive öffnet Räume, um das Wissen und das Begehren von sozialen Bewegungen in Staatsverhältnisse einzuschreiben, staatliche Institutionen der Ungleichheit und Marginalisierung also zu transformieren.

Viertens werden in Staatsdiskursen und -praxen soziale Positionen und politische Identitäten nicht allein zwangsweise verordnet, sondern sie müssen aktiv angeeignet bzw. von den Individuen entworfen werden. Staatlichkeit ist mithin eine Schnittstelle von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, politischen Institutionen und Identitäten – das was Judith Butler (2001) als Subjektivierung bezeichnet. In diesem Sinne ist Staatlichkeit nicht nur ein repressiver Apparat, der Menschen herrschaftsförmigen Entwürfen sozialer Ordnung unterwirft, sondern auch eine Praxis, durch die die Subjekte ihre Identitäten und Interessen aktiv ausbilden, in der sie Staatlichkeit mithin potenziell auch verändern können (Pringle/Watson 1992). Menschen sind nicht nur determiniert durch staatlich institutionalisierte Trennungs- und Klassifizierungsmodi; letztere entstehen vielmehr durch die Praxen der Individuen. Auch diese Konzeption ermöglicht es, Abweichungen von zwangsweise zugemuteten staatlichen Normen zu denken. Im nächsten Schritt werden ich diese Überlegungen um die Idee der Intersektionalität erweitern.

 

3. Staatlichkeit als intersektionelle Arena

Ein staatstheoretischer Intersektionalitätsansatz hebt auf politische Institutionalisierungen ab, die in sozialen Verhältnissen und Kräfteverhältnissen verortet sind. Staatlichkeit kann mit dem oben dargelegten Konzept als die Verdichtung von interagierenden Differenz- und Ungleichheitsstrukturen begriffen werden. Im Ringen um gesellschaftliche Ordnung und staatliche Absicherung werden Ungleichheiten kombiniert und so miteinander verknüpft, dass sie in staatlichen Normen und Institutionen verkoppelt und in der Regel hierarchisiert werden. Institutionalisierte Ungleichheitsstrukturen können aber auch entkoppelt, strategisch getrennt und gegeneinander gestellt werden. Staatliche Intersektionalität ist somit ein Modus, um Ungleichheiten zu ver- oder zu entknüpfen, manche Ungleichheitsstrukturen damit bedeutsamer bzw. andere als unbedeutsam erscheinen zu lassen. Die Eigenschaft moderner Staatlichkeit ist es also, den Prozess der Verdichtung gesellschaftlicher Verhältnisse flexibel zu gestalten, also die Intersektionen je nach der Notwendigkeit staatlicher Kohäsion des Staatsprojekts (Jessop 1994: 44) zu formen.

Gesellschaftliche Unterschiede kulminieren in historisch multiplen staatlichen Diskriminierungsweisen: Geschlecht wurde im 19. Jahrhundert im Rahmen einer neuen „Bevölkerungsweise“ (Beer 1990), also der Verknüpfung von Produktion und Generativität, zu einer politisch-staatlichen Kategorie und kann daher ohne Sexualität nicht gedacht werden: Die Absicherung der Geschlechterungleichheit im bürgerlichen Ehe- und Familienrecht schuf zugleich Ausschluss qua sexueller Orientierung. In Klassenverhältnisse wurden im selben Zeitraum Geschlecht, Ethnizität bzw. Nationalität als ungleiche Strukturen eingeschrieben, waren und sind doch kapitalistische Produktions- und Reproduktionsverhältnisse durch eine internationale geschlechtsspezifische Arbeitsteilung abgesichert. Allerdings wurde Geschlecht durch die Frauenbewegung zwar politisiert, durch die Arbeiterbewegung hingegen an den politischen Rand relegiert, und der Wohlfahrtstaat produzierte durch die Institutionalisierung des Klassenkompromisses Geschlechterungleichheit. Der Nationalstaat wiederum schuf ausschließende ethnische Regime, die gleichursprünglich mit ungleichen Klassen- und Geschlechterregimen sind.

Die staatstheoretische Perspektive auf Intersektionalität impliziert, dass es keine Hierarchien zwischen unterschiedlichen Diskriminierungsstrukturen gibt, sondern dass es sich vielmehr um komplexe, diskursiv bzw. in sozialen Auseinandersetzungen konstruierte Schnittstellen und Verdichtungsweisen handelt (ähnlich: Squires 2005: 368), um je variierende und sich ändernde Auseinandersetzungen um die Sichtbarkeit von Differenzen, um ihre Bedeutung und politische Relevanz. Die unterschiedlichen Ungleichheitsstrukturen können deshalb auch nicht aufeinander zurückgeführt werden, da sie als soziale Strukturen und Praxen immer schon ineinander gegeben sind (Walgenbach et al. 2007). D.h. Geschlecht ist schon immer durch sexuelle Orientierung, durch Klassenzugehörigkeit und durch ethnische Zugehörigkeit bestimmt und staatlich institutionalisiert. Im Anschluss an Bob Jessop (1990) kann man von den „kontingenten Notwendigkeiten“ sozialer Ungleichheit und staatlich konstituierten Hierarchien sprechen.

Daher ist der Staat auch nicht einfach ein Instrument zur Durchsetzung der Interessen beispielsweise von weißen, westlichen, heterosexuellen Männern privilegierter Klassenpositionen. Er ist weder einheitlich patriarchal noch einheitlich rassistisch oder klassenzentriert, da beispielsweise Männer weder als homogene Gruppe Gesetze über das Leben von Frauen erlassen, weder einheitliche Interessen haben noch bestimmte Lebensweisen als weiße westliche Männer perpetuieren. Dies eröffnet die politische Perspektive von Koalitionen ganz unterschiedlicher von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffener Gruppen und sozialen Kräfte, auch wenn die klassifizierenden Trennungen stark sind, wie man dies historisch bei der Gewerkschafts- und der Frauenbewegung diagnostizieren kann.

Ein staats- und hegemonietheoretischer Ansatz konzeptualisiert somit Intersektionalität als interdependente, interagierende und sich verdichtende gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen (Klinger 2003; Klinger/Knapp 2005), die in sozialen Auseinandersetzungen und Politisierungsweisen durch unterschiedliche – auch zivilgesellschaftliche – AkteurInnen institutionalisiert werden, die sich in der Sprache Poulantzas’ verdichten in sozialen und politischen Ordnungssystemen, in politischen Normen, Symbolen und Verfahren. Darüber hinaus macht ein staatstheoretischer Ansatz von Intersektionalität deutlich, wie strukturelle Gegebenheiten, institutionell-staatliche Praktiken und Normen sowie interpersonale Interaktionen und individuelle Identitätsprozesse mehrfache, interdependente Diskriminierungen bzw. Privilegierungen produzieren, wie multiple Machtvektoren also auch Subjektivitäten und Identitäten hervorbringen (Staunaes 2003).

Intersektionalität wird in staats- und hegemonietheoretischer Sicht als ein paradoxer Prozess der zeitgleichen Unterwerfung unter Strukturen und der aktiven Aneignung der Subjektpositionen und damit ihrer potenziellen Veränderbarkeit konzeptualisiert werden (vgl. auch Prins 2006: 280). Intersektionelle subjektive Aneignungsprozesse von Diskriminierungsstrukturen sind aufgrund ihrer Verknüpfungen stets durch Überdeterminierung gekennzeichnet und enthalten mithin Handlungs- und Freiheitspotenziale. Der Staat hat somit eine ermächtigende Funktion, indem er die Identitäten von Subjekten intersektional konstituieren, reproduzieren und disziplinieren, zugleich aber auch transformieren kann (vgl. Ludwig 2007). In den staatlichen Institutionalisierungsprozessen werden zugleich soziale AkteurInnen mit mehr oder weniger institutioneller Macht ausgestattet. Die Be- oder Entnennung durch eine Ver- oder Entknüpfung von Ungleichheiten kann zu Entsolidarisierung und Individualisierung führen, sie kann freilich auch Chancen gemeinsamer politischer Mobilisierung gegen Ungleichheit eröffnen.

Ein staats- und hegemonietheoretisches Intersektionalitätskonzept kann nicht nur die Brücke von Subjekt zu Struktur und Institution schlagen, sondern erlaubt auch eine Verknüpfung von strukturtheoretischen und dekonstruktivistischen Ansätzen. Mit Wendy Brown ergibt sich die Perspektive, dass Subjekte durch interagierende Differenz- und Ungleichheitsdiskurse und -praxen erst „produziert“ werden – „a production that is historically complex, contingent, and occurs through formations that do not honor analytically distinct identity categories“ (Brown 1997: 87). Kurzum: Ein staats- und hegemonietheoretischer Intersektionalitätsansatz setzt auf drei Ebenen an, auf der Ebene der Subjekte an der Schnittstelle unterschiedlicher Differenzstrukturen, d.h. staatlich wirksamer Normen und Institutionen, sowie auf der Ebene von Politisierungsprozessen gesellschaftlicher AkteurInnen, die mit unterschiedlichen (Herrschafts-)Ressourcen ausgestattet sind, weil sie in ökonomischen und symbolisch-diskursiven Strukturen verortet sind bzw. agieren.

Diese Perspektive ist anschlussfähig an Kimberlé Crenshaws Unterscheidung zwischen „struktureller“ und „politischer“ Intersektionalität. Strukturelle Intersektionalität hebt auf den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Diskriminierungsstrukturen ab, während politische Intersektionalität danach fragt, wie strukturelle Ungleichheiten und ihre Schnittstellen für politische Strategien relevant sind bzw. werden (Crenshaw 1993: 3). Politische Intersektionalität macht beispielsweise deutlich, wie Frauenbewegungen oder andere zivilgesellschaftliche AkteurInnen Diskriminierung aufgrund von Ethnizität oder Religion außer Acht lassen, wie staatliche Maßnahmen gegen Rassismus Frauen diskriminieren oder wie Gleichstellungspolitik Lesben marginalisiert (Verloo 2006: 213). 

 

4. Antidiskriminierungs- und Diversitätspolitik als neoliberale Regierungspraktik?

Mit einer staats- und hegemonietheoretischen Brille sind also Antidiskriminierungs- und Diversitätspolitiken nicht nur als neue gleichstellungspolitische Instrumente zu begreifen, sondern sie verweisen auf neue Staatsverhältnisse, d.h. auf neuartige soziale Kräfteverhältnisse. Zum einen waren soziale Bewegungen erfolgreich, die nach mehr Gleichheit streben, gelang es ihnen doch – wenn auch zeitlich oft verzögert – mehr Rechte für diskriminierte Gruppen durchzusetzen. Dies geschah oft in Anlehnung an die Mobilisierungs- und Politisierungsformen anderer Bewegungen, selten in Koalitionen, wie die wechselvolle historischen Kooperationen von Arbeiter- und Frauenbewegung zeigt. Zum anderen sind Antidiskriminierungspolitiken umkämpfte Arenen der politischen Regulierung bzw. Verdichtung neuartiger sozialer Verhältnisse, nämlich der zunehmenden Differenzierung und Fragmentierung von Gesellschaft. Der (National-)Staat als ein Verdichtungsort von geschlechts- und klassenspezifischen sowie sexuellen und ethnischen Identitäten ist in einer sich globalisierenden Welt neoliberaler Konstellation in Veränderung begriffen: Die Re-Konfiguration von Staat und Politik im Kontext neoliberaler Ökonomie und Globalisierung werden geschlechtsspezifische, sexuelle, ethnische und klassenspezifische Ungleichheitsstrukturen neu organisiert, und zwar vor der Folie neuartiger trennender Klassifikationen. Hierarchische Geschlechterverhältnisse zersplittern entlang sich verschärfender Klassen- und Ethnizitätsauseinandersetzungen, und Ethnisierung als eine Form des Staatsdiskurses wird manifester, auch und gerade in der Verknüpfung mit dem Geschlechterdiskurs. Die Produktion von „Eigenem“ und „Fremden“ beispielsweise wurde eine hegemoniale Form des europäischen Staatsdiskurses im Prozess neoliberaler Restrukturierung.

Diversität erscheint nun als die Begleitmusik einer multiplen Individualisierung, die zusehends zu Entsolidarisierung und Entpolitisierung von Ungleichheitsstrukturen führt. Antidiskriminierungsmaßnahmen sollen die Menschen zwar einerseits vor Benachteiligung schützen und ihnen Rechte verleihen, andererseits deuten ihre bislang schwache Implementierung eher auf eine Auf-Dauer-Stellung von Differenz- und Diskriminierungsstrukturen hin. In diesem Kontext scheint es gleichsam zwingend, dass soziale Ungleichheit (Klasse) dethematisiert wird, erhalten doch nur gewisse Unterschiede in der EU-Antidiskriminierungspolitik Relevanz. Die diskursive Verleugnung von Klasse als eine die Gesellschaft strukturierende Kategorie in den EU-Antidiskriminierungsrichtlinien rückt soziale Gerechtigkeit und Umverteilung gegenüber Anerkennung von Unterschiedlichem in den Hintergrund.

Darüber hinaus bilden Diversitäts- und Antidiskriminierungspolitik eine neue Regierungstechnik im Kontext des neoliberalen Staatsumbaus, in der Sprache Foucaults eine Form neoliberaler Gouvernementalität (Foucault 2000). Die Rede von multipler Diskriminierung ist nämlich verknüpft mit einem „Zwang“ zur Diversität, und dies führt zu jener Selbststeuerung der Individuen unter neoliberalen Bedingungen, nämlich zu Flexibilisierung und Mobilität sowie der gleichsam permanenten Neu-Erfindung der eigenen Person. Mit der umfassenden Mobilisierung von Menschen zur Arbeit treten einerseits die Differenzen, die Diversität zwischen Menschen deutlicher in den Vordergrund, sie sollen aber andererseits genutzt werden im Mobilisierungsplan der Menschen. Diese „Gouvernementalisierung“ des Staates (Foucault 2000) macht den Staat als Herrschaftsgefüge nicht obsolet, sondern verlagert vormals externe Disziplinierungsweisen in die Individuen hinein. Anders ausgedrückt: Das permanente Selbstmanagement von Unterschieden ist eine Form des „feinen“ neoliberalen Regierens und der Kontrolle, und es zielt auf eine Inkorporierung des Wissens um die Unmöglichkeit von Gleichheit in neoliberalen Kontexten. Daneben nimmt neoliberale politische Intersektionalität „von oben“ die Form der Disziplinierung und Kontrolle durch neuartige Kategorisierungen, die gegeneinander ausgespielt werden, an wie beispielsweise Geschlecht und Religion in Kopftuchdebatten oder Geschlecht und Klasse in bundesdeutschen Politiken der Geburtensteigerung vor allem gut ausgebildeter Paare.

Einst emanzipative (Geschlechter-)Politik und feministische Konzepte werden so hegemonial überformt und zum Teil eines neoliberalen ökonomischen Projekts gemacht. Antidiskriminierungs- und Diversitätspolitiken, durchaus Strategien von Frauen- und anderen sozialen Bewegungen, laufen Gefahr, ihr kritisches Potenzial für soziale Veränderungen zu verlieren.

 

Anmerkungen

  1. „Richtlinie 2000/43/EG des Rates zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft“, „Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung des allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf“, „Richtlinie 2002/73/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg“ und „Richtlinie 2004/113/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen“.

 

Zur Autorin

Birgit Sauer, Dr. phil., Politikwissenschaftlerin, ist Universitätsprofessorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Sie ist Sprecherin des GiK (GenderInitiativKolleg) an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Gender und Governance/Critical Governance-Studies, Staats-, Demokratie und Institutionentheorien. Publikation: Politik, Emotionen und die Transformation des Politischen. Eine feministisch-machtkritische Perspektive, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, H. 2/2010, S. 141-155, zusammen mit Brigitte Bargetz.

 

Literatur

Beer, Ursula (1990): Geschlecht, Struktur, Geschichte: soziale Konstituierung des Geschlechterverhältnisses, Frankfurt/M.: Campus.

Brown, Wendy (1997): The Impossibility of Women’s Studies, in: differences. A Journal of feminist Cultural Studies, Vol. 9, Nr. 3, S. 79-101.

Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Crenshaw, Kimberlé (1993): Beyond Racism and Misogyny, in: Matsuda, Mari J./Lawrence, C./Crenshaw, Kimberlé (Hg.): Words that Wound, Boulder, CO: Westview

Foucault, Michel (2000): Die Gouvernementalität, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M., S. 41 - 67.

Grünbuch (2004): Gleichstellung sowie Bekämpfung von Diskriminierung in einer erweiterten Europäischen Union, Kommission der europäischen Gemeinschaften. Brüssel.

Jessop, Bob (1990): State Theory. Putting Capitalist States in their Place, Cambridge; Oxford.

Jessop, Bob (1994): Veränderte Staatlichkeit, in: Grimm, Dieter (Hrsg.): Staatsaufgaben, Baden-Baden, S. 43-7.

Klinger, Cornelia (2003): Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht, in: Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika (Hg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik, Bd. 2, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 14-48.

Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli (2005): Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz. Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht, "Rasse"/Ethnizität, in: Transit. Europäische Revue 29, S. 72-96.

Ludwig, Gundula (2007): Gramscis Hegemonietheorie und die staatliche Produktion von vergeschlechtlichten Subjekten, in: Das Argument, H. 270, S. 196 – 205.

Poulantzas, Nicos (1978): Staatstheorie, Hamburg.

Pringle, Rosemary/Watson, Sophie (1992): ”Women’s Interests” and the Post-Structuralist State, in: Barret, Michèle/Phillips, Anne (eds.): Destabilizing Theory. Contemporary Feminist Debates, Cambridge, S. 53-7.

Prins, Baukje (2006): Narrative Accounts of Origins: A Blind Spot in the Intersectional Approach?, in: European Journal of Women’s Studies, Vol. 13, Nr. 3, S. 277-290.

Sauer, Birgit (2001): Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte, Frankfurt/M.; New York.

Squires, Judith (2005): Is Mainstreaming Transformative? Theorizing Mainstreaming in the Context of Diversity and Deliberation, in: Social Politics. Fall, S. 366-388.

Staunaes, Dorthe (2003): Where have all the subjects gone? Bringing together the concepts of intersectionality and subjectification, in: Nora. Nordic Journal of Women’s Studies, Vol. 11. Nr. 2, S. 101-110.

Verloo, Mieke, (2006): "Multiple Inequalities, Intersectionality and the European Union." European Journal of Women's Studies. Jg. 13. H. 3, 211-228.

Walgenbach, Katharina et al. (2007): Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich.

Woodward, Alison (2005): Translating Diversity: The Diffusion of the Concept of Diversity to European Union Equality Policy and the Potential for an Intersectional Approach. Vortrag auf der Konferenz “Theorizing Intersectionality”, University of Keele, 21.5.

 

zurück zur Übersicht