Zitationsvorschlag für Schlüsseltext: Rendtorff, Barbara (2012): Warum Geschlecht doch etwas Besonderes ist. URL: www.portal-intersektionalität.de [Datum Zugriff]

Warum Geschlecht doch etwas Besonderes ist *

 

von Barbara Rendtorff

 

Mein Beitrag wurde von den Organisatorinnen des Intersektionalitäts-Portals für die Rubrik „Kritische Perspektiven auf Intersektionalität“ angefragt – diesen Sachverhalt möchte ich einleitend etwas differenzieren, denn es ist ja durchaus auslegungsfähig, was mit dieser Formulierung überhaupt angesprochen ist.

Sicherlich wird kein vernünftiger Mensch grundsätzlich etwas „gegen Intersektionalität“ vorbringen wollen. Die schlichteste sozialwissenschaftliche Überlegung reicht aus, um plausibel zu machen, dass Menschen, da sie als soziale Wesen durch ihre Erfahrungen lernen, von den materiellen Bedingungen bzw. symbolischen und politischen Ordnungen geprägt sind, in denen sie leben und in denen eben diese Erfahrungen situiert sind. Die gesellschaftliche Position, z.B. als anerkanntes oder als marginalisiertes Mitglied einer Gesellschaft, als Kind oder Erwachsene, als Frau oder als Mann usw., wird ihrerseits den Rahmen, den Entfaltungs- und Interpretationsspielraum jedes einzelnen Individuums mitbestimmen oder doch zumindest einfärben – je nachdem, welche Bedeutung dieser jeweiligen Positionierungen in der Denkgewohnheit der jeweiligen Gesellschaft beigemessen wird. Eine geschlechtersegregierte Gesellschaft, in der Frauen nichts zu sagen haben, wird um den Aspekt ‚Geschlecht‘ ein anderes Bedeutungsgeflecht errichten als eine individualisierte Leistungsgesellschaft, ebenso wird eine aus Wanderungsbewegungen entstandene Gesellschaft der Migration andere Konnotationen beifügen als eine sogenannte ‚kalte‘ Kultur, in der Veränderungen bedrohlich erscheinen. Auch wird die Position eines erstgeborenen Sohnes im Maghreb (vgl. Lacoste-Dujardin 1990) eine andere sein als in Deutschland, die eines Mädchens in Indien hängt von Kaste, Stand und Wohlstand ab usw.

So weit, so banal. Interessant wird die Debatte jedoch erst, wenn der Versuch gemacht wird, das Zusammenwirken verschiedener Faktoren, die die Position eines Individuums in einer gegebenen Gesellschaft bestimmen, systematisch fassen zu wollen. Denn zu diesem Zweck fangen die AutorInnen an, die einzelnen Faktoren zu werten, zu berechnen, ihr Gewicht und ihren Einfluss zu bestimmten und mit denen anderer zu vergleichen. Die Tragfähigkeit eines theoretischen Konzepts, das diese Systematisierung leisten will, bemisst sich also daran, inwieweit es nicht nur die (banale) Tatsache des Zusammenwirkens von Faktoren feststellen, sondern systematisch über die Dynamik Auskunft geben kann, die sich zwischen den einzelnen Faktoren einstellt.

Um diese einschätzen und konzeptionell fassen zu können, muss man ihre je spezifische Struktur, die Ebene und die Gründe ihrer Bedeutungszuschreibung einschätzen können. Meine These, dass die Kategorie ‚Geschlecht‘ etwas ‚Besonderes‘ sei, also eine spezifische Art von Bedeutung generiert (bzw. eine spezifische Art von Bedeutungszuschreibung systematisch und nicht zufällig aufruft), die sich von der anderer von Intersektionalitätskonzepten anvisierter Faktoren unterscheidet, hat mir die Zuordnung als „Kritikerin“ dieses Konzepts eingetragen. Ich persönlich teile diese Zuschreibung nicht, ich reklamiere nicht eine „privilegierte Position“ für die Kategorie Geschlecht „bei der Analyse sozialer Ungleichheiten“ (vgl. Müller 2011, die hier eine völlige Fehleinschätzung kolportiert), und meine Kritik richtet sich nicht gegen ‚Intersektionalität‘, sondern gegen die mit der Debatte oftmals einhergehenden Verkürzungen und Bequemlichkeiten.

 

Differenzierungen

Ein erster (und vielleicht der wichtigste) Ansatz zur Differenzierung ist zunächst der zwischen individuellen und strukturellen bzw. strukturierenden Aspekten. Während die individuelle Lage und das subjektive Erleben eines Einzelnen oder seine/ihre objektive Lebens- und Bildungsgeschichte von so vielen unterschiedlichen Faktoren beeinflusst werden, dass nicht zwei Leben miteinander auf einen Nenner gebracht werden können, gibt es einige (weitaus weniger) Aspekte, die regelmäßig und einer gewissen Grundlogik folgend auf die Struktur von Gesellschaften sowie auf ihre Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten Einfluss nehmen. Das heißt im Übrigen nicht, dass diese Unterscheidung auch auf das subjektive Erleben zutreffen muss. Ob die Setzung, dass Linkshändigkeit das Leben eines Individuums „weniger“ strukturiere als seine Klassenzugehörigkeit (Walgenbach 2007, 55) für ein je spezifisches Individuum zutrifft oder eine leichtfertige Verkürzung darstellt, hängt einerseits von dessen Geschichte, Lebenssituation oder beruflichen Interessen ab, und andererseits von der Perspektive der Betrachtung und Bewertung.

Auf die Frage, welche Faktoren systematisch (und nicht individuell-zufällig) einen Einfluss haben auf die Wertigkeit und Position einer Person, welche systematisch zu Marginalisierung oder zu Anerkennung führen oder welche jeweils Handlungsspielräume und Wertigkeit bestimmen, wird meistens zuerst der Dreierpack ‚race-class-gender‘ genannt. Das wäre die einfachste Lösung, da diese Merkmale in jeder menschlichen Gesellschaft eine strukturierende Wirkung haben (wenn auch auf je unterschiedliche Weise). Anders gesagt: dazugehören/nicht-dazugehören, weiblich/männlich-Kategorisierungen, machtvoll/wenig-einflussreich wären die grundlegenden Strukturkategorien. Doch wie lässt sich dabei sicherstellen, dass stets die gesellschaftliche und die politische Ebene, die der Subjektbildung und die der symbolischen Dimensionen berücksichtigt und miteinander verbunden zur Theoriebildung beitragen? Das Wort der Wahl in vielen aktuellen Texten ist hier „Verwobenheit“ – ein Wort, das alles und nichts bedeutet und sich wunderbar dazu eignet, den Schleier des scheinbaren Verstehens über die unbegriffenen Komplexe auszubreiten, und das ich deshalb für hochproblematisch halte.

Gesellschaftliche Ordnungen haben mit ihren Differenzierungen und Gewichtungen die Aufgabe einer gewissen Beruhigung der immer spannungsreichen Ungleichheiten der Individuen, sie „setzen heroisch Gewissheit, wo Ungewissheit herrscht“, schreibt Mary Douglas (1991, 167), um eine Identität zu stiften, „die es letztlich nicht gibt“ (Nassehi 1999, 193). In „Reinheit und Gefährdung“ erläutert Douglas, wie wir gewohnt sind, „verworfene Elemente“ in dem „Gesamtkompendium“ unserer Ordnung unterzubringen, das gewissermaßen die Erträglichkeit von Abweichungen ausdrückt: „Schmutz ist etwas Relatives. Schuhe an sich sind nichts Schmutziges, sie werden aber dazu, wenn man sie auf den Esstisch stellt. Essen ist an sich nichts Schmutziges, es wird aber dazu, wenn man Kochgeräte im Schlafzimmer deponiert oder die Kleider damit befleckt“ (Douglas 1988, 53). Während aber im Ritual die Symbole des Anomalen verwendet werden, um „das Böse und den Tod zusammen mit dem Leben und dem Guten“ in einem „umfassenden Muster“ (59) zu vereinigen und zusammenzubinden, sind sie im allgemeinen, im Alltag dann bedrohlich, wenn sie am „falschen Platz“ auftauchen, wenn sie durch „Entdifferenzierung“ die Zerbrechlichkeit des sozialen Systems anzeigen (vgl. Girard 1992, 28ff.). Das Muster race-class-gender ist folglich dann zu grob, wenn es als Erklärungsgrundlage für innergesellschaftliche Differenzierungen dienen soll, und es lässt sich nicht verallgemeinern, weil jede Gesellschaft ihre aus ihrer Geschichte, Religion, politischen Lage oder Produktionsweise gebildeten Differenzierungen dieser Kategorien hervorbringt. Ist nicht der Strukturalismus gerade daran gescheitert, dass sich der Versuch, eine Metatheorie zur Erklärung von Gesellschaft zu errichten, als undurchführbar erwiesen hat?

Dazu kommt, dass die gesellschaftlichen (und die symbolischen) Strukturen selbst ja aus den je historischen Denkgewohnheiten, den Normierungen und sozialen Differenzierungsprozessen und den daraus gebildeten Erwartungen entstanden sind. Unsere Vorstellungen von wichtig und unwichtig, natürlich oder sozial, von Werten und Rechten und von Geschlecht sind nur zu einem Teil (der vielleicht kleiner ist, als wir denken) auf vernunftmäßige Einstellungen zurückzuführen und zum anderen auf eine lange jeweilige Tradition symbolischer Ordnungen, die vielleicht weniger unser Denken als das sozusagen ‚gefühlte Wissen’ über weiblich und männlich betreffen, und unter deren Einfluss die Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Besitzverhältnisse und Ehrvorstellungen, Abhängigkeiten und Stellung der Kinder zu Vater und Mutter usw. geformt sind. Und Kultur ist immer eine Gesamtheit von symbolischen Systemen, wobei historisch gesehen die Heiratsregeln, die ökonomischen Beziehungen, Wissenschaft, Religion und die Sprache selbst die wichtigsten waren.

Das heißt: Es gibt die Position eines ‚Nicht-dazu-Passenden‘, eines ‚Macht habenden‘, eines ‚Liebenden‘ oder ‚Geliebten‘ als überpersönlichen Platz im Gefüge der Struktur, der dann von den jeweiligen Individuen eingenommen wird oder auf den sie ‚gesetzt‘ werden. Und weil die Struktur menschlicher Gesellschaften diese Positionen hervorbringt, sind sie relational und bekommen ihren Sinn nur durch ihre Bezogenheit auf andere (Positionen): Eine Mutter beispielsweise ist Mutter durch ihr Kind, doch die ‚Position einer Mutter’ und deren jeweilige zeit- und kulturtypische Bedeutung ist ein historisch-kulturell entstandenes und von jeder Gesellschaft je spezifisch vorgegebenes Set von Erwartungen usw., zu dem sie sich dann individuell verhalten und mit dem sie sich auseinandersetzen muss.


Kausalitäten

Das Problem, das sich hier leicht (und häufig) ergibt, ist eine Art ‚rückwirkende Naturalisierung‘, wenn die Position, die ja einen Platz in einem Gefüge anzeigt, verwechselt wird mit der Sache selbst und daraus Rückschlüsse auf die Qualität dieser Sache gezogen werden. So erwecken beispielsweise Programme wie ‚Mädchen machen MINT‘ (oder in den 1970er Jahren ‚Frauen in Männerberufe‘) den Eindruck, der Mangel von Frauen in naturwissenschaftlichen Berufsfeldern habe etwas mit den Frauen oder dem Frausein (und dessen möglichen Defiziten) zu tun, verkennen aber die Bedeutung der in der symbolischen Struktur unserer Gesellschaft verankerten Vorstellungen von Natur und Logos, die sich auf die Positionierungen von weiblich und männlich auswirken. Dieser Überlegung folgend müssten dann ganz andere Interventionen entwickelt werden und die in Girlsday und Mint-Mobilisierung investierten Mittel wären als ‚versenkt‘ prognostizierbar.

Die gesellschaftlichen Geschlechterordnungen sind nicht ein Hinweis auf eine Unterschiede machende Wirkung von Geschlecht selbst, sondern allein auf die ihm zugeschriebene Bedeutung: Natürliche Gegebenheiten seien zwar Thema unseres Handelns, aber nicht dessen Ursache, schreibt Herta Nagl-Docekal, „ebensowenig wie Marmor die Ursache einer Skulptur oder eines Bankgebäudes ist“ (Nagl-Docekal 2001, 239). Merkmalszuschreibungen und die damit einhergehenden Bewertungen sind also askriptive Phänomene (und nicht deskriptiv), sind Folge und nicht Ursache einer Zuordnung zu Positionen, die jedoch vorher als symbolisch-strukturierende bereits errichtet worden sind.

Als Konsequenz aus diesem naturalisierenden Fehlschluss wird geargwöhnt, dass schon die Annahme eines ‚natürlichen‘ geschlechtlichen Körpers selbst als Ursache seiner Bewertung wirken und folglich patriarchale Geschlechtermodelle hervorbringen würde – ein Argument, das gerade die patriarchale Logik aufnimmt und bestätigt, die es kritisieren will. Da der Organismus die „erste Erscheinungsform von Subjekthaftigkeit“ ist (List 1997, 293) und da die anatomisch-physiologischen Unterschiede „ohne alles Geheimnis sind“, wie es bei Lyotard heißt (1988, 30), besteht eigentlich keinerlei Veranlassung, sie zu leugnen oder abzuschwächen – es sei denn, man schriebe ihnen eben doch insgeheim eine aus sich selbst heraus strukturierende Bedeutung zu, dächte also selber so, wie man es bei den anderen bekämpft.

Zentral für meine Argumentation ist deshalb die strikte Unterscheidung von Gegebenheiten und Bedeutungen, wobei in der Realität von Gesellschaften und Individuen die gesellschaftlichen Ordnungen durch ständige Umdeutungen und Verschiebungen in der Repräsentation „prozessualen Charakter“ haben (vgl. Fenstermaker/West 2001, 243). Als sozialpsychologische Grundlage des Funktionierens beschreiben Fenstermaker/West das Prinzip der „accountability“, also die theoretische Ausgangsüberlegung, dass „wir uns und die anderen ständig hinsichtlich unserer (bzw. ihrer) ‚wahren Natur’ beschreiben und beurteilen und unser Handeln und Denken danach ausrichten.“ (ebd., 245) Kategorisierungen rufen die normativen Vorstellungen auf, die der jeweiligen Kategorie zugeordnet werden, und damit bewertende Erwartungen darüber, wie sich ‚jemand wie ich‘ bzw. ‚jemand wie Du‘ verhalten sollte, was wer darf und soll, was als angemessen gilt usw., und diese verbinden sich mit vorhandenen Modellen. Dies sei die „treibende Kraft bei der Herstellung von Differenz“, schreiben Fenstermaker/West, folglich gehe es weniger darum, die ausgegrenzten Gruppen reifizierend zu kategorisieren und zu beschreiben, sondern darum, einen theoretischen Rahmen zu entwickeln, der es erlaube, „aufeinander bezogene Handlungen innerhalb spezifischer Situationen“ zu analysieren (ebd.).

 

Geschlecht

Auch meine eigene These geht von einer ähnlichen Überlegung aus. Ihre „besondere Bedeutung“ bekommt die Tatsache des Geschlechts nach meiner Auffassung auf zwei Ebenen: Zum einen repräsentiert sie mit dem Bezug zur Sexualität, d.h. zum sexuellen Erleben (mit dem Gefühl der Entgrenzung) wie auch zur Fortpflanzung, eine Unabschließbarkeit, eine Öffnung zum Anderen hin (im Akt und in der Zeit – wobei ‚Anderer‘ hier als überpersönlicher Begriff gemeint ist, unabhängig von individuellen Merkmalen oder Geschlecht). Dies ist eine Art von elementarer Angewiesenheit, die nicht zuletzt in der Tatsache des Geborenseins (aus zwei Verschiedenen) bezeugt ist (und nur diese ist symbolisch repräsentiert, nicht aber Lust und Genießen). Weil aber alles, was einen Anfang hat, auch ein Ende haben wird, deutet Geschlecht auch unabweislich auf die Endlichkeit menschlichen Lebens hin. Auch die Tatsache, dass wir unfreiwillig und unabänderlich nur über jeweils eine der möglichen geschlechtlichen Formen menschlicher Existenz verfügen, repräsentiert (auf einer anderen Ebene) die ‚Nicht-Vollständigkeit‘ menschlicher Existenz – dies nicht zuletzt durch den sexuellen Körper selbst, der mit seinen Geschlechtszeichen immer auf die verlorene andere Möglichkeit verweist. Das gibt dem Sexuellen seine so besondere Brisanz und ruft verständlicherweise Strategien auf, diese Thematik so zu ordnen, dass die ihr innewohnende Beunruhigung gemildert wird. Geschlecht gibt es, so gesehen, nur in der Einzahl, es ist im Innern der Subjekte verortet als das, was uns unfreiwillig mit dem Anderen des anderen Geschlechts verbindet, indem es uns von ihm trennt – das ist m.E. der eigentliche Sinn des Begriffs „Geschlechterdifferenz“ (vgl. Rendtorff 2006, 81f.). Die symbolische Ordnung der Geschlechter soll also letztlich gerade das verdecken, worin sie einander gleichen, nämlich in diesem beunruhigenden Angewiesensein auf den Anderen und der eigenen Nicht-Vollständigkeit. Und sie tut das durch eine ganz spezielle Art von Trennung, Teilung, Spaltung: die auf das Angewiesensein und die Vergänglichkeit hinweisenden Aspekte werden abgetrennt und dem Weiblichen zugewiesen, die das Phantasma der Überwindung und der Unbetroffenheit stützenden Aspekte dem Männlichen (warum diese Spaltung so und nicht anders geschieht, muss gesondert erörtert werden, vgl. z.B. Rendtorff 2002). Da Ordnungen und Unterscheidungen immer Asymmetrien erzeugen, tendieren diese Spaltungen dann, wenn sie eine bestimmte ‚Aufgabe’ bekommen, auch zu Hierarchien – in unserem Fall, wenn das Weibliche in seiner Verbindung mit Kreatürlichkeit, Unstrukturiertheit und Gefühlsnähe als eine Folie dient, von der sich die Abgegrenztheit und das Geordnete des männlichen Ratio-Entwurfs überzeugend abheben kann.

Daraus müssen wir nun auch den Schluss ziehen, dass die Auseinandersetzung mit Geschlecht und die Geschlechterordnung erstens für jedes Individuum eine elementare strukturierende Bedeutung haben, und dass es zweitens immer eine Geschlechterordnung geben wird, die die Aufgabe hat, den Umgang mit diesen Beunruhigungen für das Ganze der Gesellschaft zu regeln. Was im Geschlechterverhältnis als Über- oder Unterordnung erscheint, als Geringschätzung von Arbeit oder als naturalisierte Annahme über geschlechtstypische Fähigkeiten usw., hat deshalb immer (zugleich und sogar vorrangig) eine andere Aufgabe: es sichert durch die Trennung in Geschlechterpositionen und stereotype den Glauben an die Fähigkeit des (männlichen) Menschen, sich über seine Begrenzungen zu erheben. Dass die Geschlechterordnung in der Form eines symbolischen Systems organisiert ist, gewährleistet dann, dass der ‚Glaube’ daran von allen geteilt wird.

Aus dieser Überlegung folgt zumindest zweierlei: Zum einen, dass geschlechterbezogene politische Strategien, die an der Verteilungsgerechtigkeit ansetzen, nur von begrenzter Wirksamkeit sein können, solange sie nicht auch diese Dimension der Bedeutung von Geschlecht tangieren und in ihre Veränderungsansätze mit aufnehmen. Das einfachste Beispiel hierfür ist übrigens die Kinderbetreuung vor dem und im Schulalter. Solange diese nur als ein organisatorisches Problem der Unterbringung und Betreuung diskutiert wird, werden die Strategien nicht aufgehen – aber nicht (nur), weil konservative Familienbilder dem entgegenstehen, sondern auch, weil das, was als Fürsorge, Verlässlichkeit und mütterliche Zuwendung symbolisch erscheint, einen Teil der menschlichen Bedürftigkeit repräsentiert, der nicht fehlen darf. Solange diese nicht anders in Selbstverständnis, Selbstbild und Selbstverantwortung der Gesellschaft als ganzer (also von Frauen und Männern als zu dieser gehörigen Individuen) eingegangen ist, wird es also einen starken, von Männern und Frauen geteilten Impuls geben, die Verantwortung dafür bei den Frauen zu belassen, damit sie nicht ganz verloren geht. Es zeigt sich folglich, dass Verschiebungen der Geschlechtspositionen auf der Ebene gesellschaftlicher Machtverhältnisse nicht beliebig verfügbar sind, sondern eine Analyse der Hintergründe von Bedeutungszuschreibungen voraussetzen.

Hier könnten wir an die jüngeren v.a. französischen (Differenz-)Philosophien anknüpfen. Auch dort zeigt sich wie ein roter Faden die Beschäftigung mit Geschlecht als Geschlechterdifferenz, sexueller Differenz, wobei diese durchgehend als zentraler Aspekt auftaucht: so etwa bei Derrida in seiner Auseinandersetzung mit Heidegger, Nietzsche und Lévinas, oder bei Lyotard in „Heidegger und ‚die Juden’“ (1988). Kristeva (1978) entwickelt in „Die Revolution der poetischen Sprache“ das Verhältnis weiblich : männlich anhand der Kontrastierung von Semiotischem und Symbolischem, während Irigaray beharrlicher darauf besteht, dass die Frau (das Weibliche) überhaupt nicht als das Andere des Mannes (oder das ‚Andere der Vernunft’) gedacht werden darf. Alle diese AutorInnen gehen davon aus, dass „sexuelle Differenz“ eben nicht den Unterschied zwischen Frauen und Männern bezeichnet, sondern etwas anderes, viel Grundsätzlicheres, Erschreckendes, das seine Qualität und Brisanz aus der Berührung mit dem Sexuellen und dem Tod gewinnt, und sie tendieren, bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Vorgehensweise, zu der Ansicht, dass sich Geschlechterdifferenz adäquat nur fassen lässt mit einem anderen, ‚neuen’ Begriff von Differenz, einem anderen „Denken der Differenz“, das die oppositionellen Entgegensetzungen und das identifizierende Denken der philosophischen Tradition überwindet (vgl. auch Kimmerle 2000), in dem ‚Differenz‘ etwas anderes meint als ‚Unterschied‘, und Geschlecht (als „Erster Repräsentant“ von Differenz (vgl. Rendtorff 1998)) die Notwendigkeit repräsentiert, sich der Unabgeschlossenheit, Nicht-Vollständigkeit, der Gespaltenheit des Subjekts zu konfrontieren (und nicht zuletzt: sie nutzbar zu machen für die unterschiedlichsten Weisen von Befriedigung).

Die binarisierende Geste, weiblich und männlich einander kontrastierend gegenüberzustellen, trägt also nicht nur zu deren Vereindeutigung (und Hierarchisierung) bei, sondern unterstützt darüber hinaus die generelle Gewohnheit, Oppositionen zu bilden, die Gewöhnung an kontrastierende vergleichende Trennungen und Spaltungen. So gesehen müsste es viel weniger um die Anzahl der Kategorien gehen, die in der Intersektionalitäts-Debatte zum Einsatz kommen, als vielmehr um die Art und Weise, wie oder die Tatsache, dass kategorisiert wird und welche Effekte damit erzeugt werden: eben eine Gewöhnung an Vereindeutigung und Hierarchisierung.

Es legt sich hier also der Schluss nahe, dass das, was aus dem allgemeinen Diskurs ausgeschlossen wird, nicht ‚das Weibliche‘ ist, wie es die frühen feministischen Texte vermuteten, sondern die (Geschlechter )Differenz selbst, als zutiefst beunruhigender und irgendwie „undenkbarer“ (vgl. Lyotard 1988b, 829) Aspekt der menschlichen Existenz. Und weil Geschlecht eine so hochwirksame Angelegenheit ist, wird dieser Ausschluss eben auch hier exekutiert – so dass in der Konsequenz also das Weibliche gerade nicht ausgeschlossen werden soll, sondern als beständig Auszuschließendes den Diskurs fundiert.

Als zweite, aus dem oben Gesagten folgende Überlegung lässt sich festhalten, dass Geschlecht tatsächlich alle gesellschaftlichen Phänomene tangiert, selbstverständlich auf höchst unterschiedliche Weise, doch wenn sich seine Aufgabe der Bewältigung einer elementaren Beunruhigung in die Strukturen des Denkens und Wahrnehmens bzw. der Bedeutungsproduktion eingeschrieben hat, dann ist sie tatsächlich in irgendeiner Form immer da. Die verschiedentlich vertretene Position, dass wir mittlerweile von einer De-Institutionalisierung des Geschlechterverhältnisses ausgehen könnten, nach der Geschlecht heute „kein durchgehendes Ordnungsprinzip“ mehr sei (Heintz/Nadai 1989, 75, 88), muss folglich selbst auf der Ebene von Organisationen mit großer Vorsicht behandelt werden, aber die Thesen, dass die Wirkungen der Geschlechterordnung durch „Neutralisierungsarbeit“ und „Negationsphasen“ (Hirschauer 1994, 679) ausgesetzt werden könnten oder die Geschlechterunterscheidung insgesamt „entbehrlich“ würde (vgl. Gottschall 2000, Kap. 7) – was logischerweise (gewissermaßen ‚von selbst’) die Entkräftung und letztliche Auflösung hierarchischer Geschlechterverhältnisse zur Folge haben würde – müssen von hier aus grundsätzlich angezweifelt werden. Die These, dass Geschlecht „entbehrlich“ werde, muss zurückgewiesen werden, weil sie die Ebene seiner Bedeutung nicht erfasst, wie auch die These, dass es nur „diskontinuierlich aktualisiert“ werde (Hirschhauer 1994, 677), weil dies allgemein verstanden nicht fraglich ist, dabei aber übersieht, dass Geschlecht auch als nicht-aktualisiertes wirksam ist.

Dies wiederum würde jeden additiven Umgang mit der Kategorie Geschlecht verbieten, eben weil davon auszugehen wäre, dass Geschlecht auch innerhalb der anderen Kategorien ein Strukturelement darstellt. Hier ergibt sich übrigens dann auch ein Ansatz, um die Strukturwirkung von Geschlecht und Ethnizität miteinander vergleichend in Beziehung zu setzen – das zu erörtern würde hier aber zu weit führen (vgl. aber Rendtorff 2008).

 

Mein Beitrag zur Debatte ist also bescheiden. Ich plädiere lediglich dafür, die Bedeutung und die Wirkung der Kategorie Geschlecht nicht unterkomplex einzuschätzen, sondern zu berücksichtigen, dass die Brisanz (und insofern auch die ‚Wichtigkeit‘) von Geschlecht nicht auf der Ebene von Verteilungen (von Macht und Einfluss usw.) zu suchen ist, sondern auf der Ebene der Bedeutungszuschreibungen, und dass deren Quelle in der ‚Tatsache des Geschlechtlichseins‘ liegt, dessen im wörtlichen Sinne existenzielle Brisanz uns zu ständiger Auseinandersetzung zwingt. 

 

Anmerkungen

* Der Titel verweist auf meinen gleichnamigen Aufsatz, der in dem von Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp herausgegebenen Band „ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz“, Münster 2008, enthalten ist, und an den sich der hier vorliegende Text teilweise anlehnt.

 

Zur Autorin

Barbara Rendtorff, Professorin für Schulpädagogik und Geschlechterforschung an der Universität Paderborn. Einige Veröffentlichungen zum Themenfeld: Rendtorff, Barbara: Geschlecht als Provokation und Herausforderung für die Pädagogik – und der Beitrag der Psychoanalyse, in: Günther Bittner et al (Hg.): Allgemeine Pädagogik und Psychoanalytische Pädagogik im Dialog, Opladen 2010 Rendtorff, Barbara: Über den (möglichen) Beitrag der Psychoanalyse zur Geschlechterforschung, in: Rita Casale / Barbara Rendtorff (Hg.): Was kommt nach der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung, Bielefeld 2008 Rendtorff, Barbara: Ist der ‚Andere des anderen Geschlechts‘ ein besonderer Anderer?, in: Schäfer, Alfred / Wimmer, Michael (Hg.): Selbstauslegung im Anderen, Münster 2006 Rendtorff, Barbara: Geschlecht und différance. Die Sexuierung des Wissens. Eine Einführung, Königstein 1998 Rendtorff, Barbara: Geschlecht und Symbolische Kastration. Über Körper, Matrix, Tod und Wissen, Königstein 199.

 

Literatur

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Douglas, Mary (1991): Wie Institutionen denken. Frankfurt am Main.

Fenstermaker, Sarah/West, Candace (2001): „Doing difference“ revisited. Probleme, Aussichten und der Dialog in der Geschlechterforschung, In: Heintz, Bettina (Hg.): Geschlechtersoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 41, Wiesbaden, S. 236-249.

Girard, René (1992): Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks. Frankfurt am Main.

Gottschall, Karin (2000): Soziale Ungleichheit und Geschlecht. Kontinuitäten und Brüche, Sackgassen und Erkenntnispotentiale im deutschen soziologischen Diskurs, Opladen.

Heintz, Bettina/Nadai, Eva (1998): Geschlecht und Kontext. DeInstitutionalisierungsprozesse und geschlechtliche Differenzierung. In: Zeitschrift für Soziologie 2/1998, S. 75–93.

Hirschauer, Stefan (1994): Die soziale Fortpflanzung der Zweigeschlechtlichkeit. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 4/1994.

Irigaray, Luce (1979): Das Geschlecht, das nicht eines ist, Berlin Kimmerle, Heinz (2000): Philosophien der Differenz. Würzburg.

Kristeva, Julia (1978): Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt am Main.

Lacoste-Dujardin, Camille (1990): Mütter gegen Frauen. Mutterschaft im Maghreb. Zürich.

List, Elisabeth (1997): Das lebendige Selbst. Leiblichkeit, Subjektivität und Geschlecht. In: Stoller, Silvia / Vetter, Helmut (Hrsg.): Phänomenologie und Geschlechterdifferenz. Wien, S. 292–318.

Lyotard, Jean-François (1988): Heidegger und die „Juden“. Wien.

Lyotard, Jean-François (1988b): Ob man ohne Körper denken kann. In: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a.M.: 813-829.

Müller, Marion (2011): Intersektionalität und Interdependenz, in: Soziologische Revue, Band 34 (2011), S. 298-309.

Nagl-Docekal, Herta (2001): Feministische Philosophie. Ergebnisse, Probleme, Perspektiven. Frankfurt am Main.

Nassehi, Armin (1999): Der Fremde als Vertrauter. Soziologische Beobachtungen zur Konstruktion von Identitäten und Differenzen. In: Ders.: Differenzierungsfolgen. Beiträge zur Soziologie der Moderne. Opladen: 179-201.

Rendtorff, Barbara (1998): Geschlecht und différance. Die Sexuierung des Wissens. Eine Einführung, Königstein.

Rendtorff, Barbara (2002): Der Körper und seine Bedeutungen. In: Breitenbach, Eva et al. (Hrsg.): Geschlechterforschung als Kritik. Bielefeld: 49-63.

Rendtorff, Barbara (2006): Ist der ‚Andere des anderen Geschlechts’ ein besonderer Anderer? in: Schäfer, Alfred/Wimmer, Michael (Hrsg.): Selbstauslegung im Anderen. Münster: 81-96.

Rendtorff, Barbara (2008): Warum Geschlecht doch etwas ‚Besonderes‘ ist, in: Cornelia Klinger / Gudrun-Axeli Knapp (Hrsg.): ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz, Münster.

Walgenbach, Katharina (2007): Gender als interdependente Kategorie, in: Dies. et al. (Hrsg.): Gender als interdependente Kategorie, Opladen, S. 23-6.

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