Zitationsvorschlag für Schlüsseltext: Lutz, Helma: Differenz als Rechenaufgabe: über die Relevanz der Kategorien Race, Class und Gender. Formal überarbeitete Version der Originalveröffentlichung in: Lutz, Helma (Hrsg.); Wenning, Norbert (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen : Leske + Budrich 2001, S. 215-230. URL: www.portal-intersektionalität.de [Datum Zugriff]

Differenz als Rechenaufgabe:

über die Relevanz der Kategorien Race, Class und Gender1

von Helma Lutz


Die Amerikanerin Donna Haraway stellt in ihrem Buch „Symians, Cyborgs and Women“ Folgendes fest:

„It has seemed very rare for feminist theory to hold race, sex/gender, and class analytically together – all the best intentions, hues of authors, and remarks in prefaces notwithstanding. In addition, there is as much reason for feminists to argue for a race/gender system as for a sex/gender system, and the two are not the same kind of analytical move. And, again, what happened to class? The evidence is building of a need for a theory of ‘difference’ whose geometries, paradigms, and logics break out of binaries, dialectics, and nature/culture models of any kind. Otherwise, threes will always reduce to twos, which quickly become lonely ones in the vanguard. And no one learns to count to four“ (Haraway, 1991, S.129).

Die Herausforderung an die Frauenforschung, „bis vier zählen zu lernen“, die Haraway hier quasi als Rechenaufgabe formuliert, ist bis heute heiß umstritten und weitgehend ungelöst. Ihr Plädoyer für die Entwicklung einer Theorie, in der verschiedene Achsen sozialer Positionierung integriert werden, und die das Ausbrechen aus binären Paradigmen und Modellen erfordert, bleibt aktuell. Bei genauerem Hinsehen stellt sich schnell die Frage, wie hier eigentlich gezählt werden soll: handelt es sich etwa bei sex und gender oder bei Ethnizität und „Rasse“ um eine einzige, oder um mehrere Kategorien? Zunächst einmal bleibt festzustellen, dass das Fazit, das Haraway für die englischsprachige Debatte zieht – die Verschränkung der Kategorie Geschlecht mit anderen, wie etwa „Rasse“ und Klasse oder Ethnizität, werde zwar oft genug in feministischen Analysen gefordert oder angekündigt, letztendlich aber nicht eingelöst –, auch auf die bundesrepublikanische Debatte zutrifft.2

Haraways Aufforderung kann damit zweifellos auch als Herausforderung an die deutsche (erziehungswissenschaftliche) Frauen- und Geschlechterforschung gesehen werden.

In seiner Einleitung zu dem Schwerpunktheft der „Zeitschrift für Pädagogik“: „Geschlecht als Kategorie in der Erziehungswissenschaft“ (1997) verbindet Heinz-Elmar Tenorth die Aussage, die Kategorie Geschlecht habe nunmehr Eingang in die Erziehungswissenschaft gefunden, gleich mit einer Einschränkung:

„Die weitere Forschung wird erst zeigen müssen, welche Bedeutung diese Orientierung für die Erziehungswissenschaft erbringt – also insofern: Geschlechterforschung als scientific business as usual“ (Tenorth 1997, S. 851).

Die Formulierung „scientific business as usual“ ist sicherlich unterschiedlich interpretierbar, denn abhängig von der jeweiligen Sprecher/innen/position und seiner/ihrer jeweiligen Perspektive kann sie eine dominante „Stimme“ verstärken oder schwächen. Hier könnte man sie als Plädoyer für ein Einlassen auf die Geschlechterforschung und damit für die Anerkennung der Kategorie Geschlecht als Leitdifferenz der Disziplin verstehen. Gleichzeitig weist Tenorth – unter Bezugnahme auf den im gleichen Heft erschienenen Artikel von Leonie Herwartz-Emden (1997) – darauf hin, dass Geschlecht allein in bestimmten Forschungsfeldern (hier geht es um die Analyse von Jugendverhalten) nicht hinreichend ist, sondern der Koppelung an Ethnizität bedarf. Diese Feststellung ist aus mehreren Gründen bemerkenswert: zum einen scheint sie eine längst überfällige Theoriedebatte, die auch für die deutsche (erziehungswissenschaftliche) Frauen- undGenderforschung immer noch aussteht (siehe dazu Lutz 1992, 1994, Gümen 1996, 1998, Herwartz-Emden 1997), einzufordern; zum anderen knüpft sie, ohne dies direkt anzusprechen, an die oben genannten englischsprachigen Debatten an. Damit könnte man dieses Statement als eine Aufforderung verstehen, Ethnizität3 als Differenzkategorie wissenschaftlich ernst zu nehmen und so „bis vier zählen zu lernen“.

In diesem Aufsatz geht es darum, die Relevanz der Kategorien für die deutsche erziehungswissenschaftliche Debatte aufzuzeigen. Ich werde im ersten Teil auf die bislang nur in Ansätzen rezipierte englischsprachige Debatte eingehen, danach den „deutschen Sonderweg“ skizzieren und im zweiten Teil die Nützlichkeit einer Kategorienverknüpfung an einem Beispiel verdeutlichen.
 

1 Von der Mehrfachunterdrückung zur Intersektionalität

Während in der amerikanischen Debatte die sogenannte „Rassenfrage“, und damit die Frage nach sozialer Gleichberechtigung und Gleichstellung kultureller und ethnischer Minderheiten, eine bis in das 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition hat, wird sie in Europa erst als Folge der Arbeitskräftezuwanderung und/oder der postkolonialen Zuwanderung diskutiert.

Migration und Minderheitenbildung ist heute ein internationales politisch und pädagogisch relevantes Thema mit länderspezifischen Ausformungen. In den USA wurde die Frage nach dem kollektiven Ausschluss aufgrund der „Rassenzugehörigkeit“, womit zunächst nur Afro-Amerikaner gemeint waren, verstärkt in den 1970er Jahren zum Thema akademischer Auseinandersetzung. Gleichzeitig entstand eine neue feministische Bewegung, die sich im akademischen Feld als feministische oder Frauen-Forschung etablierte. Das Manifest des „Combahee River Collective“ (1982, zuerst 1977), das heute als der klassische und exemplarische Text schwarzer und feministischer Identität gilt, verband erstmals die Einsichten und Forderungen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung mit denen der Frauenbewegung. Wie ihre berühmten Nachfolgerinnen4 kritisierten die Autorinnen die Androzentrik der schwarzen Befreiungs- und Bürgerrechtsbewegung, die die spezifischen Exklusionserfahrungen schwarzer Frauen nicht wahrnehme, sowie die Frauenbewegung, die sich an den Bedürfnissen weißer Mittelschichtsfrauen orientiere. Einige Jahre später fassten Gloria Hull, Patricia Bell Scott und Barbara Smith (1982) diese Kritik in einem Satz pointiert zusammen: „All the women are white, All the blacks are men, But some of us are brave.“

Das Manifest des „Combahee River Collective“ verstand sich als erster Versuch, die Erfahrungen schwarzer Frauen „sichtbar“ zu machen. Das Kollektiv widersetzte sich der Eindimensionalität von Analysen, die sich entweder nur auf die Kategorie Frau oder auf die Kategorie „Rasse“ bezogen, womit damals der Widerstand gegen Sexismus oder Rassismus gemeint war. Stattdessen wiesen sie auf die Vielschichtigkeit ihrer Erfahrungen hin:

„The major source of difficulty in our political work is that we are not just trying to fight oppression on one front or even two, but instead to address a whole range of oppressions“ (Combahee River Collective 1982, S. 13).5

Dieses Zitat spiegelt die (politische) Sprache ihrer Zeit, in der die kollektive Erfahrung als Ausgangspunkt von Bewusstwerdung und politischer Aufklärungsarbeit gesehen wurde. Als Referenzpunkt dieser Erfahrung galt der Begriff Unterdrückung, in dem die Differenz schwarzer weiblicher Existenz zum Ausdruck gebracht wurde. Der Terminus Unterdrückungserfahrung unterscheidet zwischen den Positionen der Opfer und der Täter. Als Täter werden hier nicht nur weiße und schwarze Männer benannt, sondern auch weiße Frauen, die als Mit-Täterinnen oder zumindest als Nutznießerinnen von Kolonialismus und Neo-Kolonialismus betrachtet wurden.6 Dieser Diskurs, im Englischen als „triple-oppression-theory“ (Race, Class, Gender) und im Deutschen später als „Mehrfachunterdrückungsthese“ bezeichnet, war historisch gesehen zwar nicht der erste, der die Differenzen zwischen Frauen innerhalb der Frauenbewegung zum Gegenstand der Betrachtung machte,7 er war und blieb jedoch ein besonders umstrittener und emotional besetzter. An der Mehrfachunterdrückungsthese, die bald auch Eingang in die wissenschaftliche Debatte fand, wurde kritisiert, dass sie Unterdrückung lediglich als die Summe verschiedener Aspekte betrachte und dabei spezifische Momente der Unterdrückung schwarzer Frauen aus dem Blickfeld gerieten, wie etwa das Zusammenspiel sexistischer und rassistischer Exklusion. Zudem würden Rassismus und Sexismus oft in einem Atemzug genannt und ihre Funktions- und Wirkungsweisen würden leichtfertig auf ein einheitliches Muster reduziert (siehe dazu auch Lutz 1992).

Im Laufe der Jahre gab es viele Versuche, die aus der politischen Bewegung abgeleiteten Kategorien wissenschaftlich zu einem Analysemodell zu verarbeiten. Ein weithin diskutiertes Resultat davon finden wir etwa bei der Philosophin Iris Young (1990), die in ihrem Buch „Justice and the politics of difference“ fünf Kategorien von Unterdrückung unterscheidet: Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, kultureller Imperialismus und Gewalt. Young vertritt die These, Menschen würden als Teil sozialer Gruppen über Eigenschaften identifiziert, bzw. seien über die identifizierbar, die den jeweiligen sozialen Gruppen zugeschrieben werden. Verschiedene Kategorien der Unterdrückung können sich gegenseitig verstärken und überschneiden; ebenso können sich die Erfahrungen mit verschiedenen Unterdrückungsformen individuell und kollektiv verändern, wie etwa im Laufe des Alterungsprozesses oder beim Wechsel von einem hetero- zu einem homosexuellen Lebensstil. Nun liegt der Vorteil dieser Theorie der „five faces of oppression“ der Autorin zufolge darin, dass die Einordnung der Unterdrückung sozialer Gruppen mittels separater Klassifikationssysteme (wie etwa durch: Rassismus, Sexismus, Unterdrückung der Arbeiterklasse, Alterdiskriminierung usw.) vermieden und die Verbindungen zwischen den einzelnen Unterdrückungsformen besser sichtbar werden. Mit der Operationalisierung der „fünf Gesichter“ meint die Autorin, objektive Kriterien gefunden zu haben, mit deren Hilfe der Anspruch auf Anerkennung als Angehörige(r) einer unterdrückten Gruppe festgestellt werden kann. Die Relevanz eines solchen Modells ergibt sich aus dem Kontext der Quotierungsregelungen, der sogenannten „affirmative action“-Politik, die sich in den USA zu einem wichtigen politischen Instrument der Bekämpfung sozialer Ungleichheit entwickelt hat. Nun scheint allerdings Youngs Modell als wissenschaftliches Instrument nur dann sinnvoll, wenn ihre Kategorien nicht als objektive Kriterien zur Beurteilung kultureller Artefakte dienen, sondern eher als Resultat von Macht- und Verteilungskämpfen in einem hegemonialen Feld betrachtet werden, die sich verändern können und immer wieder neu analysiert werden müssen (siehe dazu Lutz 1993).

Es gab noch weitere Kritikpunkte an diesem Ansatz. Ausgelöst durch einen Aufsatz von Joan Scott (1992) wurde der Begriff „Erfahrung“ einer wissenschaftlichen Revision unterzogen: Er sei lediglich auf der subjektiven Ebene zulässig und könne keineswegs als kollektives soziales Unterscheidungskriterium fungieren. Ein Teil der feministischen Theoretikerinnen verwarf nun „experience“ als Kategorie gänzlich und verzichtet damit auf die Einbeziehung subjektiver Elemente in die Gender-Analyse.

Auch wurde die Frage nach den Zuordnungskriterien zusätzlich durch die Feststellung kompliziert, dass jeder Mensch bezüglich der Unterdrückungsformen gleichzeitig verschiedene Subjektpositionen und kollektive Identitäten besitzen kann. Hiermit ist die außerordentlich komplizierte Debatte über „Identitätspolitik“ angesprochen, die seit Anfang der 1990er Jahre die englischsprachige Diskussion der Frauen- und Genderforschung prägt. Unter dem Einfluss poststrukturalistischer Debatten (siehe dazu auch den Einleitungsbeitrag in diesem Band) gerieten Begriffe wie kollektive Unterdrückung und kollektive Identität, die eine Selbstpräsentation als dominierte Gruppe oder Gemeinschaft (community) voraussetzen, ins Kreuzfeuer der Kritik. So schrieben etwa Floya Anthias und Nira Yuval-Davis:

„In other words, this politics of community representation assumes that the interest of women, Blacks, and disabled people, for instance, are inherently non-conflicting and intrinsically the same, because they are all categories of disadvantage. In actuality, the politics of identity often devalues the actual separate, and often conflicting experiences of the people it attempts to represent“ (Anthias/Yuval-Davis 1992, S. 192).

Argumentationen wie diese, die sich gegen die Essentialisierung von Unterdrückungserfahrungen richteten, wurden in den angelsächsischen Debatten, insbesondere in den USA, wo „communities” als kollektive Handlungseinheiten das politische Geschehen bestimmen und wo mit der Gründung von „rainbow coalitions“ geradezu eine strategische Essentialisierung vorangetrieben wurde, nicht kritiklos angenommen.8 In den englischsprachigen feministischen Debatten allerdings entfachte sich in den 1990er Jahren eine heftige Kontroverse um die Begriffe „Identitätspolitik“ (im Sinne der politischen Nutzung einer „gemeinschaftlichen“ Minderheitenidentität) und „Differenz“. Der Terminus „Differenz“ wurde erneut in die Debatte eingeführt, sozusagen als Verdoppelung – aber nicht mehr zur Betrachtung der Differenz zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, wie zu Beginn der Gender-Debatte, wobei es im Wesentlichen um die Frage ging, wie aus einer sexuellen zweigeschlechtlichen Differenz (männlich-weiblich) ein soziales Zuschreibungs- und Positionierungsmuster mit vielfältigen kulturellen Repräsentationen entstanden ist, nämlich Gender. Nun dient „Differenz“ der Bezeichnung sozialer, sexueller, ethnischer oder nationaler Unterschiede innerhalb derselben Genderkategorie. Aber es geht auch darum, deutlich zu machen, dass das Subjekt der Spätmoderne nicht mehr als ein mit sich selbst identisches, sondern eher als ein dezentriertes, fragmentiertes, vielstimmiges Subjekt gedacht werden muss (siehe u. a. Hall 1994, Bauman 1997, Butler 1991, 1995). Es dürfte deutlich sein, dass diese Diskussionen den Stempel der heftigen poststrukturalistischen Debatten tragen (siehe etwa den Einleitungsbeitrag in diesem Band). Zwischen feministischen Theoretikerinnen entstand ein Streit darüber, welche Vorteile poststrukturalistische Analysemodelle für die Genderforschung mit sich bringen, oder ob nicht etwa mit der „Abschaffung des Subjekts“ auch die Grundlagen der gesamten politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Genderbegriff verschwinden (siehe dazu Benhabib u. a. 1995). Ohne hier detailliert auf die Resultate dieser Debatten eingehen zu können, sollen kurz die Vor- und Nachteile der Verflüssigung des Genderbegriffs imRahmen der Differenzdebatte angeführt werden:

Von Vorteil ist, dass die Differenz zwischen Männern und Frauen als ein biologisch und sozial konstruiertes Ordnungsprinzip nicht als kulturelle Konstante, sondern in ihrer zeitlichen und räumlichen Dis-Kontiunität untersucht und konzeptualisiert wird. Der Nachdruck auf Differenz hat mehr Raum geschaffen für die Einbeziehung anderer Kategorien wie „Rasse“ oder „Ethnizität“, die ebenfalls de-naturalisiert, d. h. als soziale Konstruktionen beschrieben und erörtert wurden.9 Dass letzteres keine einfaches Unterfangen ist, beschreibt Avtar Brah (1992, S. 143): „Social phenomena such as racism seek to fix and naturalize ‚difference‘ and create impervious boundaries between groups.“ Die Betonung von Differenz ist also problematisch, wenn sie dazu dient, statische und homogene Gruppen zu bilden, diese hierarchisch zu ordnen und ihre soziale Unverträglichkeit festzusetzen. Allerdings kann mit dem Differenzbegriff auch die Analyse der Wahrscheinlichkeit verbunden werden, zur Zielscheibe von Rassismus zu werden (siehe den Beitrag von Leiprecht und Lang in diesem Band).

Eine Gefahr liegt in der Egalisierung von Differenz, die einer Ent-Problematisierung gleich kommt: „all different, all equal“ – wir sind alle gleich unterschiedlich. Diese Tendenz zur Gleichstellung und Gleichschaltung aller Differenzlinien wurde zu Recht gerade von schwarzen Feministinnen kritisiert, da auf diese Weise spezifische Macht- und Gewaltverhältnisse und ihre kulturellen Repräsentationen aus der Analyse verschwinden. Eine Zeit lang wurde versucht, dieser Gefahr zu entgehen, indem auf die notwendige Kontextualisierung von „race“, class, gender und ethnicity verwiesen wurde. In den Rahmen der Kontextualisierungsbemühungen fallen auch Dekonstruktionen von Begriffen wie Ethnizität, „Rasse“ oder Nationalität:

Anthias und Yuval-Davis (1992) analysieren zum Beispiel, wie Ethnizität zur Beschreibung von Kultur, Religion, Sitten usw. der Anderen und damit zur Normalisierung der eigenen Gruppe eingesetzt wird – „ethnisch“ sind die Anderen. Sie plädieren für eine gesellschaftliche Analyse, die davon ausgeht, dass die Mitglieder einer Gesellschaft nicht nur über ihr Geschlecht oder ihre Klassenzugehörigkeit, sondern auch ethnisch positioniert sind. Von Ruth Frankenberg (1993) stammt der Hinweis, dass in Folge des Rassismus und der jahrhundertelangen Beherrschung und Kolonialisierung von Völkern außerhalb Europas (sowie Osteuropas) innerhalb Europas ein Selbstverständnis von „whiteness“ entstand, demzufolge die weiße Hautfarbe (zusammen mit anderen phänotypischen Kennzeichen) als die unmarkierte und unproblematische (quasi nicht-ethnische) Sprecherposition gilt. Diese ist dazu autorisiert, „Andere“ zu beschreiben und zu beurteilen. Im Englischen wird dieser Prozess als „othering“ beschrieben, eine adäquate deutsche Übersetzung fehlt leider. Die komplexen Vorgänge des „othering“, die die Rassialisierung (racialization) ethnischer Gruppen beinhalten, sollten, so die Vertreterinnen der Kontextualisierungsthese, immer gleichzeitig Gender- und Klassendifferenzen berücksichtigen:

„Only by contextualizing race within ethnic processes, by considering how the racialization of ethnic boundaries takes place and by examining gender and class differences and exclusions, can the more concrete issues of fighting the attributions and practices of exclusion and subordination be more effectively undertaken“ (Anthias/Yuval-Davis 1992, S. 198).

Festzuhalten bleibt hier, dass – unter dem Einfluss des Dekonstruktivismus – theoretische Zugänge entstanden sind, die sich gegen jegliche Form naturalisierender Zuschreibungen (über Geschlecht, „Rasse“, Klasse, Sexualität, Nationalität) wenden und stattdessen für die genaue Untersuchung sozialer Positionierungen plädieren.10

Auf dem Hintergrund dieser Debatten entwickelten vor allem schwarze US-amerikanische Feministinnen in jüngster Zeit die sogenannte Intersektionalitätsanalyse (intersectionality), die davon ausgeht, dass es notwendig und möglich ist, Gender, „Rasse“/Ethnizität, Klasse, Sexualität und Nationalität in ihrem Zusammenspiel und in Bezug auf die Gleichzeitigkeit ihrer Wirkung zu untersuchen (Smith 1998). Mit der Hinzunahme von Nationalität ist nun, rückblickend auf die Forderung Donna Haraways, darauf hinzuweisen, dass es mittlerweile nicht mehr darum geht, nur bis vier zählen zu lernen, sondern schon bis fünf.

Ausgangspunkt dieser Argumentation ist die Feststellung, dass Menschen sozusagen im Schnittpunkt (intersection) dieser Kategorien positioniert sind und ihre Identitäten, Loyalitäten und Präferenzen entwickeln (Crenshaw 1993).

Bevor ich die Relevanz der Intersektionalität an einem Beispiel verdeutliche, will ich in aller Kürze auf die Besonderheiten der deutschen Debatte eingehen.


2 Der deutsche Sonderweg

Im Laufe der vergangenen 15 Jahre wurde immer wieder gefragt, warum sich die deutsche Frauenforschung, verglichen mit den Debatten in den Niederlanden, in England und den USA, nur sehr zögernd mit einer Erweiterung der Analysekategorie Gender auseinandergesetzt hat (siehe dazu Kalpaka/Räthzel 1986, Lutz 1989, 1992, 1994, Lutz/Huth-Hildebrandt 1998, Gümen 1996, 1998, Rommelspacher 1999). Während etwa Kalpaka und Räthzel (1986), sowie auch ich selbst, gerade auf dem Hintergrund der heftigen Auseinandersetzungen, die ich in den 1980er Jahren in den Niederlanden und in England erlebte, vermuteten, dass Faktoren wie etwa die fehlende staatsbürgerliche Integration von Migrantinnen in der BRD, und damit verbunden auch ihre relative politische Schwäche und ihre Unterrepräsentanz in der feministischen Bewegung, und/oder der deutsche Widerstand gegen die Übertragung des Rassismus-Konzepts auf die bundesrepublikanische Gesellschaft zu dieser Situation beigetragen haben (siehe Lutz 1989, 1992, 1994), führt Birgit Rommelspacher (1999) in einem interessanten Rückblick auf 20 Jahre feministischer Debatte in Deutschland noch weitere Gründe für deren Spezifik an. Sie unterscheidet mehrere Diskussionsstränge: die Debatten über Nationalsozialismus, Antisemitismus und den Migrationsdiskurs (der sich vor allem im sozialpädagogischen Bereich entfaltete) sowie die durch das Ausland beeinflusste Debatte über Rassismus und Kolonialismus. Im Unterschied zu anderen europäischen Länden und den USA, so Rommelspacher, könne in Deutschland „Rassismus ohne den Nationalsozialismus und den Antisemitismus nicht diskutiert werden“ (ebd., S. 22).

Da der Begriff Rassismus im alltäglichen Sprachgebrauch mit den nationalsozialistischen Verbrechen verknüpft und immer mit seiner Extremform identifiziert werde, sei eine Diskussion um subtile, der Vernichtung vorgelagerte Formen von Alltagsrassismus in Deutschland kompliziert. Die Zentrierung auf den Nationalsozialismus schließe die Wahrnehmung des kolonialen Rassismus aus:

„Der deutsche Kolonialismus ‚verschwindet‘ quasi hinter dem Nationalsozialismus als gleichsam geringeres Übel. [...] Der Kolonialismus wird nicht als ein Problem der Deutschen begriffen, sondern wird eher auf die eigentlichen Kolonialmächte wie England, Frankreich oder die Niederlande verschoben“ (Rommelspacher 1999, S. 22).

Hiermit spricht Rommelspacher einen wichtigen Grund dafür an, dass der Anschluss der bundesdeutschen Debatten an die postkolonialen Theorien des angelsächsischen Raums bis heute aussteht. Zwar gab es einige wichtige Interventionen, etwa das bereits erwähnte Buch von Momozai (1982) über Frauenleben in der deutschen Kolonie des heutigen Namibia, oder das erste Buch von schwarzen Deutschen (Opitz u. a. 1985), die sich ausdrücklich in der angelsächsischen Debatte verankerten. Diese Werke führten aber keineswegs zu einer generellen Akzeptanz der Erweiterung der Gender- Kategorie in der Frauenforschung. Rommelspacher stellt jedoch auch heraus, dass in der deutschen Frauenforschung eine Debatte stattgefunden habe, die in anderen Ländern fehlt: die über die Involvierung von Frauen in den Nationalsozialismus und Antisemitismus (Koonz 1991, Ebbinghaus 1987, S. 7 ff.). Der Wunsch, sich selbst zu entlasten und Frauen zum besseren Geschlecht zu erklären, so Rommelspacher, sei bereits dort gescheitert, wo feministische Historikerinnen sich mit der These befassen mussten, dass auch Frauen Hitler zur Macht verhalfen. Im Laufe dieser Auseinandersetzung seien verschiedene Analysemodelle entwickelt worden, die heute wiederum relevant für die Erforschung von Rechtsextremismus und Nationalismus seien. So etwa die Mittäterschaftsthese (Thürmer-Rohr, s. o.) oder die Analyse von an Frauen gerichteten Ermächtigungsstrategien, in denen diese als Hüterinnen und Reproduzentinnen der „reinen Rassen“ und als schutzlose Opfer sexueller Übergriffe von Männern minderwertiger „Rassen“ präsentiert und positioniert werden. Aus Rommelspachers Analyse ist abzuleiten, dass die Fokussierung dieser Debatte auf die Verknüpfung von Gender und „Rasse“ im Nationalsozialismus keinerlei Verbindung zu der etwa gleichzeitig geführten Debatte über Ethnizität im Migrationsdiskurs zulässt. Bis heute gibt es nur wenige Arbeiten, die die Kontinuität des Rassebegriffs und seine Fortführung im Ethnizitäts- bzw. Kulturbegriff in Deutschland eingehend untersuchen (vgl. Leiprecht 2000, S. 28 ff.).

In den englischsprachigen Debatten werden „Rasse“ und Ethnizität dagegen parallel benutzt. Der Rassebegriff bezieht sich dabei in der Umgangssprache zumeist auf den Unterschied zwischen Weißen und Schwarzen. Rechtlich wird race in den USA immer noch als staatsbürgerliche Klassifizierungskategorie verwendet und hat eine immense Bedeutung in Verwaltung, Politik und Alltag. Die US-amerikanischen Behörden teilen die Bevölkerung in vier rassische Gruppen ein: Native Americans, African-Americans, Asian Americans und Caucasians. Darüber hinaus erfolgt die Einteilung aufgrund ethnischer Herkunft, etwa Hispanics. Der Begriff Ethnizität wurde erstmals in den 1920er Jahren, vor allem von den Theoretikern der „Chicago School“, als neues Paradigma in die Debatte eingeführt, welches biologistische und genetische Argumentationen zugunsten von kulturellen aufgab (siehe auch Steiner-Khamsi 1992, S. 23). In der Begriffsgeschichte werden drei Hauptphasen unterschieden: Vor 1930 diente er der Infragestellung des klassischen Rassebegriffs, zwischen 1930 und 1965 wurde er von Progressiven und Liberalen oft synonym mit dem Rassebegriff in einer nicht-biologischen Bedeutung benutzt und nach 1965 – also nach der Abschaffung der Rassensegregationsgesetzte (Jim Crow Laws) – fand er auch in der progressiven Politik Verwendung, um der fortdauernden Diskriminierung durch neo-konservative Kreise entgegenzutreten (Omi/Winant 1986, S. 14 ff.).10 Eine wachsende Anzahl von WissenschaftlerInnen, insbesondere die hier rezipierten AutorInnen, verwerfen heutzutage den Rassebegriff als unwissenschaftlich, bzw. weisen darauf hin, dass „Rasse“ und Ethnizität Konstruktionen mit einer langen Geschichte machtpolitischen Missbrauchs sind. In der BRD wurde dagegen der Ethnizitätsbegriff für die Beschreibung der durch die Arbeitsmigration der Nachkriegszeit ethnisch pluralisierten deutschen Gesellschaft präferiert (siehe auch den Beitrag von Wenning in diesem Band). Ethnizität dient hierzulande im Wissenschaftsdiskurs bis heute weitgehend als Beschreibungskategorie für sogenannte ethnisch Differente; die im Deutschen als Ethnisierung beschriebenen Prozesse sind im Kern durchaus vergleichbar mit den in der englischsprachigen Debatte beschriebenen Rassialisierungsprozessen. In der deutschen Umgangssprache wird dabei eher der Begriff Kultur benutzt, um rassialisierte Gruppen zu beschreiben. Theodor Adorno schrieb dazu bereits 1955: „Das vornehme Wort ‚Kultur‘ tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch“ (siehe dazu auch den Beitrag von Höhne in diesem Band).

Mein Resümee des deutschen Sonderwegs schließt deshalb auch mit der Feststellung, dass die Berührungsängste der deutschen Geschlechterforschung mit den englischsprachigen Debatten historisch nachzuvollziehen sind, dass ein Dialog jedoch dringend notwendig erscheint – nicht, um die Konzepte zu kopieren, sondern im Gegenteil, um gerade die historische und soziale Spezifik der Debatten besser in den Blick nehmen zu können.

Sedef Gümen (1998) erkennt bereits einen solchen Dialog, wenn sie schreibt, dass gerade die Rezeption der Gender-Debatte aus dem englischsprachigen Raum seit Anfang der 1990er Jahre maßgeblich zum Paradigmenwechsel der deutschen feministischen Wissenschaft beigetragen habe:

„Die Neubestimmung der Kategorie Gender als Prozess und Relation, als eine nicht von vornherein festlegbare, sondern sich verändernde und heterogene Größe, die in weitere soziale Bezüge und Herrschaftsverhältnisse eingebunden ist, führt dazu, Geschlecht als durch und durch soziales Phänomen im größeren Zusammenhang gesamtgesellschaftlicher Prozesse zu erfassen. Dieser theoretische Wendepunkt bereitete den Weg dafür, andere Kategorien wie ‚Ethnizität‘ oder ‚ethnische Differenzen‘ aufzunehmen“ (Gümen 1998, S. 188).

Am Beispiel einer Textanalyse wird nachfolgend verdeutlicht, dass diese Auseinandersetzung mit den Kategorien fruchtbar sein kann.

 

3 Die Relevanz der Kategorien

Im Folgenden wird ein Gesprächsausschnitt einer Gruppendiskussion in einer niederländischen Berufsschulklasse zitiert, die im Rahmen der Untersuchung von Rudolf Leiprecht über Alltagsrassismus bei Jugendlichen in den Niederlanden und der BRD stattfand (Leiprecht, 2000, S. 372-73):11 Unter den Jugendlichen, die zu diesem Zeitpunkt 16 und 17 Jahre alt waren, befanden sich keine Eingewanderten; der Forscher ist deutsch-niederländischer Herkunft.

Dieses Fragment beinhaltet eine Gruppendiskussion, die sich im Anschluss an eine Debatte über verschiedene Items der Fragebogenuntersuchung entwickelte. Hier ging es um „Ausländer“:

„Bert: Na ja, ich finde, dass man schon das Recht hat, um sich selbst so zu kleiden, wie man will. Also wenn man mit einem Kopftuch irgendwo rumläuft, das finde ich, macht auch nichts aus. Wenn ich mit so ‘ner Hose rumlaufen möchte, dann darf das auch nichts ausmachen, aber wenn ja, du musst dich schon an die Leute und an deine Arbeit und weiß ich was, anpassen können.

Interviewer: Aber was heißt das: anpassen?

Bert: Ja, sich schon gemäß den niederländischen Vorstellungen verhalten.

(Es wird durcheinandergeredet, unverständlich).

Niels: Aber es ist natürlich alles oder nichts, man kann nicht teilweise mit einem Kopftuch und teilweise nicht … Es ist natürlich der eine oder der andere Weg. Man kann nicht zur Hälfte niederländisch und zur Hälfte türkisch.

Kevin: Aber ja, weil alte Weiber laufen auch mit einem Kopftuch.

(Gelächter)

Bert: Nein, ich meine auch nicht, dass man sich äußerlich anpassen muss, sondern einfach in der Einstellung, ja, der Einstellung auf sozialem Gebiet, einfach die Art des Denkens. Ich meine, dass es auf der Straße niederländisch sein muss, also nicht so weit hinter dem Mann herlaufen und was weiß ich nicht alles.

Interviewer: Du wolltest etwas sagen?

Chantal: Etwa über das Äußerliche. Wie man aussieht, das sagt doch auch sehr viel aus … über deine Art zu denken, wen du jemand in Pennerkleidung oder so, sehr schmutzig, siehst, dann weißt du, ja, der wird wohl von dort kommen, der wird wohl so sein.“

Bert thematisiert das Anders-Sein der Anderen über Kleidung; er führt das Kopftuch ein – in den Niederlanden wie auch in der Bundesrepublik ein Kleidungsstück mit hohem Symbolcharakter, das als Metapher für die kulturelle und religiöse „Fremdheit“ von muslimischen Einwanderern gilt (siehe Lutz 1989, 1999 und Höhne in diesem Band). In den Niederlanden sind damit türkische und marokkanische Eingewanderte gemeint. Da die Missbilligung von Kleidungsformen nicht unbedingt mit der auch von den Jugendlichen stark vertretenen Vorstellung niederländischer Toleranz vereinbar ist, stellt er hier erst einmal die niederländische Common-sense-Version des „jeder soll nach seiner eigenen Façon selig werden“ vor, benutzt die Kleidung aber schließlich als Ausgangspunkt für ein Anpassungsargument: „du musst dich schon an die Leute und an deine Arbeit und weiß ich was, anpassen können.“ In diesem Zusammenhang wird das Kopftuch zum Symbol des Unwillens dieser Bevölkerungsgruppe zur Anpassung. Gefragt, was Anpassung seiner Meinung nach bedeutet, scheint für ihn die Auskunft: „die niederländische Weise“ ausreichend und nicht weiter erklärungsbedürftig zu sein. Niels greift seine implizite Argumentation auf und führt sie weiter. Er verwirft die Vorstellung von ethnischer Mehrfachidentifikation und zieht eine klare Grenze: alles oder nichts steht bei ihm für die Inklusion in oder die Exklusion aus der niederländischen Gemeinschaft. Das Kopftuch dient hier nicht nur als Erkennungszeichen für eine andere ethnische Gruppe, sondern auch für eine andere Nationalität: türkisch. Die Akzeptanz und Aufnahme in die staatsbürgerliche Gemeinschaft der Niederländer verlangt die Distanz zum Kopftuch. Damit wird letzteres zum Kennzeichen des Selbstausschlusses.

Bis zu diesem Punkt wurden bereits mehrere Kategorien im Gespräch von den Jugendlichen evoziert: Gender (Weiblichkeit, Kopftuch), Ethnizität bzw. Nationalität (Türken – Niederländer), letztere können auch unter die Differenzlinie Kultur subsumiert werden.

Weitere folgen; Kevin widerspricht Bert lachend, indem er eine weitere Differenzlinie hinzufügt: Kopftücher sind auch ein Kennzeichen alter Frauen, und zwar der eigenen Ethnie oder Kultur (alte Weiber), von der er sich so als Angehöriger der Jugend distanziert. Bert reagiert darauf nicht weiter, sondern ergänzt das bislang entworfene Bild von Rückständigkeit und (weiblicher) Fremdheit um ein anderes. Er verlässt die Ebene der Äußerlichkeit (Kleidung) und verbindet sie mit innerlicher Einstellung; im Bourdieuschen Sinne stellt er hier die Verbindung zum (kollektiven) Habitus her: Die weitverbreitete Vorstellung, muslimische Frauen gingen nicht neben, sondern hinter ihrem Manne her, dient ihm als Versinnbildlichung überkommener, patriarchaler Beziehungsmuster. Bert entwirft hier ein Bild, das mehrere Funktionen hat: einerseits benutzt er die Konstruktion nicht-egalitärer Geschlechterbeziehungen der „Anderen“ als Exklusionsargument, das, wie etwa von Margret Jäger (1996) ausführlich beschrieben, zur Legitimation rassistischer Argumentationsmuster dient, andererseits wird ebenfalls die Verbesserung der „eigenen“ Position mit Hilfe des Patriarchatarguments erreicht: „wir Niederländer“ sind emanzipiert – „sie“ dagegen importieren mit der Migration auch ihr traditionelles Unterdrückungsmuster. Die gesamte Szene kann so als Ethnisierung, als Inszenierung einer „Selbstbeglückwünschung“ betrachtet werden, die sich eben auch feministischer Rhetorik zu bedienen scheint.

Schließlich beteiligt sich Chantal an der Diskussion; sie fügt eine weitere Kategorie hinzu, über die soziale Ex- bzw. Inklusion hergestellt wird: ein Penner, ein Nicht-Sesshafter dient ihr hier als Unterstützungsargument für die Feststellung von Bert, dass das Äußerliche inneren Eigenschaften zuzuordnen ist. Dabei setzt sie die Selbst-Marginalisierung Nicht-Sesshafter über ihren („schmutzigen“) Lebensstil der vorher konstruierten Selbst-Marginalisierung von muslimischen EinwanderInnen gleich.

Diese Form der Argumentation ist keineswegs neu, die Anbindung eines äußeren Erscheinungsbilds (phänotypisch) an „innere“ Eigenschaften ist originär rassistisch und spielte insbesondere im (deutschen) Antisemitismus eine wichtige historische Rolle.

Es geht hier nicht darum, diesen Jugendlichen rassistische Äußerungen nachzuweisen, vielmehr werden in diesem kurzen Abschnitt, der eine mehr oder weniger alltägliche Unterhaltung darstellt, die verschiedensten Differenzlinien zu Selbst- und Fremdpositionierung benutzt. In der Einleitung zählten wir 13 bipolare hierarchisierende Differenzlinien auf: Geschlecht, Sexualität, „Rasse“/Hautfarbe, Ethnizität, Nation, Klasse, Kultur, Gesundheit, Alter, Sesshaftigkeit, Nord-Süd/Ost-West, gesellschaftlicher Entwicklungsstand modern-traditionell und Besitz. Diese Linien folgen der Logik hierarchischer Grunddualismen, die als Norm bzw. als Abweichung von der Norm funktionalisiert werden.

In dem obigen Fragment sind nicht alle Linien explizit anwesend, aber sie sind auch unausgesprochen wirksam: So wird etwa die Tatsache, dass es sich um weiße, nicht-behinderte Jugendliche handelt, keineswegs thematisiert – sie ist dennoch Bestandteil der Unterhaltung. Die Anwesenheit eines Eingewanderten oder behinderten Jugendlichen hätte den Gesprächsverlauf sicher beeinflußt und zu einem anderen Ergebnis geführt, zudem ist die De- Thematisierung Bestandteil der Selbstpositionierung: als weißer Schüler muss ich mich nicht zu Ethnizität äußern, den meine Sprecherposition ist körperlich nicht negativ markiert. Gleiches gilt etwa für Gesundheit (Behinderung) oder in einem bestimmtem Kontext auch für Alter, Klasse usw. Dass das Geschlecht immer im Zusammenhang mit diesen Positionierungsprozessen steht, sollte deutlich geworden sein.

Abschließend kann hier festgestellt werden, dass von unserer Perspektive aus gesehen es nicht mehr reicht, „bis vier zählen zu lernen“, sondern dass wir, je nach Fragestellung, sehr viel mehr Differenzlinien oder Kategorien in die Forschung mit einbeziehen müssen. „Race, Class & Gender“ werden damit eher zur Metapher eines multiplen Differenzierungsprozesses, der in jeder adäquaten Analyse zu berücksichtigen ist, denn zu einem „Dreisprung“. Keineswegs soll damit gesagt werden, dass diese Analyseform immer ein kompliziertes Rechenwerk voraussetzt, doch ist hier hoffentlich klar geworden, dass simple universalistische Modelle und Vorstellungen über die Subjekte von Bildungs- und Erziehungsprozessen nicht mehr ausreichen. Letztendlich geht es also keineswegs nur darum, „bis vier zählen zu lernen“, zunächst einmal müssen die Unterschiede zwischen den einzelnen Kategorien überhaupt wahrgenommen werden. Differenz ist schließlich mehr als eine Rechenaufgabe.

 

Anmerkungen

*  Ich danke Marianne Krüger-Potratz, Rudolf Leiprecht, Bettina Suthues und Norbert Wenning für inspirierende Kommentare zu diesem Aufsatz.

  1. Siehe dazu die Kritik u. a. von Apitzsch 1994, Diehm 1999, Gümen 1996, 1998, Gutiérrez Rodríguez 1999, Lutz 1988, 1989, 1991, 1992, 1994, Lutz und Huth-Hildebrandt 1998.
  2. Zur Frage, inwiefern Ethnizität mit „Rasse“ gleichgesetzt werden kann, siehe weiter unten.
  3. Um hier nur einige zu nennen: Angela Davis, Bell Hooks, Audre Lorde, Michele Wallace, Barbara Smith, Patricia Hill Collins, Patricia Williams, Jacqui Alexander, Kimberlé Crenshaw und viele andere.
  4. Zur Bedeutung des „Combahee River Collective“ für die Frauenforschung siehe auch Maurer (1996).
  5. In Deutschland bezog sich die Mit-Täterschaftsthese, deren bekannteste Vertreterin Christina Thürmer-Rohr ist, zunächst auf die Beteiligung von Frauen am Faschismus; später wurde sie, vor allem unter dem Einfluss der Arbeiten Martha Mamozais (1989) über die Rolle von Frauen im deutschen Kolonialismus, und als Reaktion auf die englischsprachigen Debatten, auf die Beschreibung von Gegenwartsphänomenen angewandt.
  6. Bereits zur Zeit der ersten Frauenbewegung in Europa (Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts) waren die Differenzen zwischen Frauen der Arbeiterklasse einerseits und Mittelschichts- bzw. Oberschichtsfrauen andererseits thematisiert worden; in der neuen Frauenbewegung hatten lesbische Frauen ihre spezifische gesellschaftliche Exklusion durch den Heterosexualitätsdiskurs kritisiert.
  7. Siehe dazu die Beschreibung der Konflikte zwischen „unterdrückten“ Gruppen bei Goldberg (1998).
  8. Zur Erörterung der Debatte über den Rasse- und den Ethnizitätsbegriff siehe Leiprecht (2000, Kapitel 2). 
  9. Schwierig bleibt in diesen Analysen allerdings der Umgang mit dem Machtbegriff, da die poststrukturalistischen Theorien Macht als ein diskursives Feld betrachten, in dem sich Herrscher und Beherrschte oder Unterdrücker und Unterdrückte nicht anweisen lassen. Weil nun aber Fragen, die (ethnische) Minderheiten betreffen, nicht nur pädagogischer oder soziologischer Natur, sondern immer auch politisch sind, ist die Ausklammerung der Machtfrage schlichtweg unmöglich.
  10. Der Begriff Ethnizität (ethnicity) fand erstmals 1972 Eingang in das Oxford English Dictionary; das Wort ethnisch dagegen wurde in England bereits im 14. Jahrhundert in der Bedeutung von heidnisch und barbarisch benutzt (Williams 1976, S. 119).
  11. Ich danke Rudolf Leiprecht für seine Zustimmung zum Gebrauch dieses Interviewfragments für meine Demonstrationszwecke. Seine eigene Textanalyse (2000, S. 373 ff.) beschäftigt sich mit Anpassungsdiskursen und geht dem Zusammenhang von Ethnizität und Gender nach. Mir geht es hier um die Erweiterung dieser Differenzkategorien.

 

Zur Autorin

Helma Lutz, seit 2007 Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung am Fachbereich Gesellschaftswissenschaft der Goethe Universität Frankfurt. Universität Münster, studierte Sozialpädagogik, Soziologie, Politikwissenschaft und Erziehungswissenschaft in Kassel und Berlin; Promotion (PhD) in Soziologie (Universität von Amsterdam 1990); Habilitation in Erziehungswissenschaft (Münster 1999) und Soziologie (Münster 2005). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Verbindung von Geschlecht und Migration, Intersektionalität, Rassismus- und Ethnizitätsforschung und Biographieforschung. Neueste Veröffentlichungen: The New Maids. Transnational Women and the Care Economy. London: Zed Books 2011; Framing Intersectionality. Debates on a Multi-Faceted Concept in Gender Studies. Abingdon: Ashgate 2011 (Hsg. mit Maria Teresa Herrera Vivar & Linda Supik); Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Wiesbaden: VS Verlag 2010 (Hsg. mit Maria Teresa Herrera Vivar & Linda Supik); ‚Gender Mobil? Geschlecht und Migration in transnationalen Räumen.’ (Herausgeberin), Münster: Westfälisches Dampfboot 2009 und ‚Migration and Domestic Work: A European Perspective on a Global Theme’ (Hsg.), Aldershot: Ashgate 2008.

 

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