Methode
Schritt nach vorn
Dauer: 75 Minuten
Autor_in/ Organisation: Anti-Bias-Werkstatt / GLADT e. V.
GLADT e. V. weist darauf hin, dass die Methode im Jahr 2009 entwickelt wurde und die damaligen Antidiskriminierungsstandards wiedergibt.
Zielgruppe: Jugendliche ab 14 Jahren, Erwachsene
Material: Anlage «Identitätsbausteinchen» und eine Kopie der Anlage mit den Fragen (siehe Downloadmöglichkeit am Ende der Seite).
Lernziele/Verwendungsmöglichkeiten:
- Einfühlung in die realen Lebensbedingungen gesellschaftlicher Minderheiten oder kultureller Gruppen
- Förderung von Empathie mit Menschen, die nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören
- Reflexion der eigenen Position in der Gesellschaft
- Reflexion und Verstehen gesellschaftlicher Verhältnisse
Kurzbeschreibung: Diese Übung dient dazu, gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse, Privilegierungen und Deprivilegierungen zu verdeutlichen und für ungleiche Chancenverteilung in der Gesellschaft zu sensibilisieren.
Durchführungsschritte/ Instruktionen:
Vorbereitung:
Die vorgeschlagenen Identitätsbausteinchen sind in vier Gruppen geteilt (Anlage I: Herkunft, Alter und sexuelle Orientierung; Anlage II: Bildungsgrad, Beruf; Anlage III: Religion/Weltanschauung und Geschlecht; Anlage IV: körperliche Beeinträchtigungen und sozialer Status). Hierbei handelt es sich um einen Vorschlag. Sie müssen je nach Zusammensetzung der Gruppe verändert oder ergänzt werden. Wichtig ist, dass möglichst viele Differenzlinien (wie: Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Alter, Herkunft, sexuelle Orientierung, Hautfarbe, Bildungsgrad, sozialer Status etc.) angesprochen werden. Auch die vorgeschlagenen Spielfragen (siehe Arbeitsblatt «Spielfragen») sollten an die jeweilige Gruppe bzw. das Thema, um das es vorrangig gehen soll, angepasst werden. Es hat sich bewährt, etwa 15 Fragen zu stellen.
Ablauf der Übung:
Alle Teilnehmer_innen ziehen jeweils eine Rollenkarte aus den vier Kategorien. Die Zusammenstellung ergibt die Rolle, in die die Teilnehmer_innen für die Übung schlüpfen werden. Die Teilnehmenden sollen sich in ihre Rolle hineinversetzen. Zur Unterstützung können sie die Augen schließen; Sie können folgende oder ähnliche Fragen stellen, um den Prozess zu beschleunigen: – Wie heißt du? – Wie war deine Kindheit? – Wie sieht dein Alltag aus? – Wo lebst du? – Was machst du in Ihrer Freizeit?
Die Karten sollen niemandem gezeigt werden, es soll auch kein Gespräch über die «neue» Identität stattfinden. Nun stellen sich die Teilnehmer_innen in einer Reihe an einer Wand des Raumes auf. Kündigen Sie an, dass nun eine Reihe von Fragen gestellt wird. Alle, die in ihrer Rolle eine Frage mit «Ja» beantworten können, bewegen sich ein Stück vor. Antworten sie dagegen mit «Nein» oder wissen die Antwort nicht bzw. sind sie unsicher, so bleiben sie, wo sie sind. Es geht bei der Beantwortung der Fragen um eine subjektive Einschätzung, die wichtiger ist als sachliche Richtigkeit.
Stellen Sie nun der Reihe nach die Fragen. Lassen Sie den Teilnehmenden nach jeder Frage einen Moment Zeit, um die Frage für sich im Stillen zu beantworten, und fordern Sie sie dann auf, sich ggf. ein Stück nach vorn zu bewegen. Stellen Sie alle Fragen, die Sie ausgewählt haben. Die Teilnehmer_innen bewegen sich schweigend nach vorn oder bleiben am Platz. Sie sollen dabei ihre Rolle immer noch für sich behalten. Wenn alle Fragen gestellt sind, bleiben die Teilnehmenden für den ersten Teil der Auswertung in ihrer Rolle an ihrem Platz.
Auswertung – Phase 1:
Die Auswertung erfolgt zunächst an dem Ort, wo die Teilnehmenden in ihrer Rolle verblieben sind. Fordern Sie sie auf, ihre eigene Position für sich selbst zu reflektieren:
- Schaut euch einmal um, wo ihr gerade seid. Wo sind die anderen? Wie fühlt sich das an? Bewegen Sie sich nun auf das Spielfeld und sprechen Sie einzelne Personen bezüglich ihrer Position an. Dabei sollten sowohl Personen, die ganz vorn sind, als auch solche, die weit zurückgeblieben sind, sowie Personen aus dem Mittelfeld angesprochen werden (wenn die Gruppe relativ klein ist, können auch alle befragt werden).
- Wie fühlst du dich (innerhalb deiner Rolle)?
- Wie ist es, so weit vorn zu sein? Oder wie ist es, immer nicht voranzukommen?
- Wann haben diejenigen, die häufig einen Schritt nach vorn machten, festgestellt, dass andere nicht so schnell vorwärtskamen wie sie?
- Wann haben diejenigen, die weit hinten blieben, gemerkt, dass die anderen schneller vorwärtskamen?
Nachdem sich die Einzelnen zu ihrer Position geäußert haben, werden sie gebeten, ihre Rolle den anderen in der Gruppe vorzustellen. Die hinten Stehenden bemerken meist schnell, dass sie zurückbleiben, während die Vorderen häufig erst zum Schluss bemerken, dass andere nicht mitkommen. An dieser Stelle sollte darauf hingewiesen werden, dass auch in der Realität denjenigen in privilegierten Positionen häufig ihre Privilegien so selbstverständlich sind, dass sie sie überhaupt nicht wahrnehmen, wohingegen diejenigen in marginalisierten Positionen ihre Deprivilegierung meist alltäglich spüren.
Auswertung – Phase 2:
Für den zweiten Teil der Auswertung sollten die Teilnehmer_innen ihre Rollen «abschütteln», «ausziehen» oder «abstreifen» und «wegwerfen», um aus den Rollen herauszukommen. Die weitere Auswertung findet im Stuhlkreis im Plenum statt. Allgemein
- Wie ist es euch mit der Übung ergangen?
- Konntet ihr euch in die Situation/en der von euch gespielten Personen/Rollen hineinversetzen?
- Konntet ihr euch die jeweiligen Lebensbedingungen vorstellen? Was war unklar, wo wart ihr euch unsicher?
- Wie leicht oder schwer war es einzuschätzen, ob du einen Schritt nach vorn machen kannst?
- Wo warst du dir unsicher?
- Welche Fragen sind dir besonders im Gedächtnis geblieben? Bilder und Stereotype zu den einzelnen Rollen
- Woher hattet ihr die Informationen über die Lebenssituation der gezeichneten Rollen?
- Warum wissen wir über bestimmte Personen/Rollen viel, und über andere gar nichts? (Hier kann auf die Bedeutung der Medien eingegangen werden) Übertragung auf die gesellschaftliche Realität
- Was hat dich in deinem Handeln in eingeschränkt? (Bedeutung von Differenzlinien entlang von Kategorien wie Staatsangehörigkeit, Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter, Religion, sozialer und finanzieller Status etc.)
- Inwiefern spiegelt die Übung deiner Meinung nach die Gesellschaft wider?
- Welche Möglichkeiten zur Veränderung ihrer Situation haben die verschiedenen Gruppen oder Individuen? Worauf haben sie keinen Einfluss?
- Was sollte sich ändern? Was können wir ändern? (Übertragung auf die eigene Situation)
- Wo würdest du selbst stehen, wenn du diese Übung ohne Rollenkarte als du selbst mitgemacht hättest?
- Wie könntest du mit deinen eigenen Privilegien verantwortungsvoll und konstruktiv umgehen?
- Oder wie könntest du deiner Marginalisierung entgegentreten?
Abschluss:
Subjektive Möglichkeitsräume: Auch wenn durch soziale Positionierungen bestimmte Handlungsspielräume durch Privilegierung und Deprivilegierung (Benachteiligung) festgelegt sind, haben Individuen dennoch die Möglichkeit, ihre Positionen unterschiedlich zu nutzen, denn strukturelle Begrenzungen schließen individuelle Möglichkeitsräume nicht aus. Allerdings sind trotzdem nicht alle «ihres Glückes Schmied», denn unterschiedliche strukturelle Ausgangspositionen haben starken Einfluss auf die individuellen Handlungsspielräume.
Hinweise/ Was ist zu beachten?
Bitte achten Sie sehr darauf, dass die Teilnehmer_innen wissen, dass es sich hier um eine subjektive Einschätzung handelt, nicht um sachliche Richtigkeit! Die Übung kann eigene Erfahrungen von Ausschluss und Handlungsbeschränkungen ins Gedächtnis rufen. Deshalb sollte genügend Zeit für die Auswertung eingeplant werden, um unterschiedliche Erfahrungen, deren Bewertungen und Konsequenzen diskutieren zu können.
Wichtige Rahmenbedingungen: 12–25 Teilnehmende. Der Raum muss genug Platz dafür bieten, dass sich alle Teilnehmer_innen in einer Reihe aufstellen können und sich von dort aus mindestens 8 m nach vorn bewegen können.
Erfahrungen und mögliche Schwierigkeiten: Die hier vorgeschlagenen Rollen sind zum Teil klischeehaft. Einerseits kann dadurch das Einfühlen erleichtert werden. Andererseits werden Rollenklischees durch die Rollenbeispiele wiederholt und nicht aufgebrochen. Stellen Sie Ihre eigenen Bausteinchen her! Einzelne Rollen, die entstehen, können auf den ersten Blick sehr unrealistisch sein. Thematisieren Sie in diesem Fall, wie untypisch einige Identitäten nun einmal sind.
Im Anschluss an die Auswertung kann die Übung ein zweites Mal durchgeführt werden, wobei die Teilnehmenden keine Rollenkarten bekommen, sondern in ihrer eigenen Person die Fragen beantworten. Auf diese Weise kann die eigene gesellschaftliche Positionierung und die damit einhergehende Macht der Teilnehmenden herausgearbeitet werden. Zudem können je eigene Handlungsspielräume deutlich gemacht werden. Wenn die Gruppe groß genug ist, kann die Gruppe sich auch kreisförmig aufstellen und bei der Hand fassen. Fragen, die mit «Ja» beantwortet werden können, führen dazu, dass die Teilnehmer_innen in Richtung Mitte fortschreiten. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wird es dazu kommen, dass einige fühlbar zurückgelassen werden müssen.
Bezug Intersektionalität: Die Verschränkung von Herrschaftsverhältnissen wird räumlich sichtbar und erfahrbar gemacht und somit besprechbar. Die Methode basiert darauf, dass verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse in den Fragen thematisiert werden. Neben individuellen Handlungsstrategien sind gesellschaftliche Kategorien über Generationen hin wirksam. Hier liegen die Hinweise auf die historische Dimension von Unterdrückung und Privilegierung. Die Fragen nach den aufkommenden Gefühlen sind zum einen Teil einer Sensibilisierung für gesellschaftliche Dominanzverhältnisse und verweisen zugleich darauf, dass z. B. individuelles schlechtes Gewissen nicht weiter hilft, sondern Veränderungen gesellschaftlicher Verhältnisse notwendig sind.
Schlagworte: Intersektionalität, Mehrfachzugehörigkeit, strukturelle Gewalt
Link/PDF-Download: Gladt e. V. (2009): Ein Schritt nach vorn, in: HEJ - Handreichung für emanzipatorische Jungenarbeit, 4. Handreichung, URL: hej.gladt.com/archiv/2009-12-15%20HR%204%20-%20Identitaet.pdf, Zugriff: 14.8.2023
Einstellungsdatum: 07.03.2012; aktualisiert: 14.08.2023
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