Projektseminar Hypertext
Das Projektseminar 'Intersektionalität und Hypertext' (Walgenbach / Reher, 2011/12) widmete sich der Fragetsellung, welche Vorzüge ein Hypertext-Format gegenüber einer linearen Sprach- und Schriftform für die visuelle Darstellung von intersektionalen Inhalten haben könnte.
Dafür wurde die Frage der Gewichtung von sozialen Kategorien in intersektionalen Formaten zentral thematisiert ('Problem: Gewichtung der Kategorien').
Anschließend wurde das Projektexperiment 'Interdependenz und Hypertext' (Reher / Walgenbach) umgesetzt, bei dem die inhaltliche Vernetzung intersektionaler Publikationen mithilfe eines interaktiven 3D-Graphens veranschaulicht wurde.
Problem: Gewichtung der Kategorien
Intersektionalität ist ein Paradigma, mit dem die Wechselbeziehungen von Dimensionen sozialer Macht-, Herrschafts- und Normierungsverhältnisse wie Geschlecht, soziales Milieu, Migrationshintergrund, Nation, Ethnizität, 'Rasse', sexuelle Orientierung, Behinderung, Generation et_cet_era. fokussiert werden.
Diese Dimensionen sozialer Ungleichheit werden als soziale Konstruktionen konzeptualisiert, welche nicht isoliert voneinander analysiert werden können, sondern in ihren Überschneidungen (intersections) oder Wechselverhältnissen (Interdependenzen/interdependenten Kategorien) untersucht werden müssen. Additive Perspektiven sollen überwunden werden, indem der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten bzw. Positionierungen gerichtet wird.
Die gleichzeitige Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien generiert allerdings spezifische Problemstellungen bzw. Fragen: Wie viele soziale Kategorien müssen in eine intersektionale Analyse einbezogen werden? Sind mit Geschlecht, Ethnizität oder sozialem Milieu die wichtigsten Kategorien bzw. Machtverhältnisse benannt oder müssen weitere Kategorien aufgenommen werden? Wie dokumentieren sich bereits in der Reihenfolge von Benennungen Hierarchien zwischen sozialen Kategorien? Wird bspw. Geschlecht immer zuerst genannt oder Behinderung nur sehr selten problematisiert? Welche soziale Kategorien werden relevant gesetzt, welche auf ein 'etc.' reduziert?
Im wissenschaftlichen Feld werden diese Fragen kontrovers diskutiert. Sie sind nicht zuletzt deshalb relevant, da uns Formate wie Artikel, Vorträge oder freie Rede zu einer linearen Darstellung bzw. Reihung von Kategorien zwingen: man kann nicht mehrere Kategorien im selben Moment benennen. Dieser Zwang zur linearen Gestaltung von Texten könnte allerdings durch die besondere Struktur von Hypertextformaten erweitert bzw. herausgefordert werden.
Entgegen dem etablierten linearen Textverlauf bietet Hypertext potenziell eine flüssige Struktur an, die einer Weiterentwicklung zugewandt bleibt (Berressem 1996,112f). In kulturwissenschaftlichen Publikationen über Hypertext wird daneben die Verwirklichung eines neuen Verhältnisses zwischen Textproduzent_innen und Lesenden angenommen (Landow 1997, 57). Unter Verweis auf dekonstruktivistische Theorieansätze wird Hypertext hier bspw. verglichen mit einer 'rhizomatischen Struktur' (vgl. Deleuze/Guattari 1977; Berressem 1996, 110ff; Mayer/Schneck 1996), die Lesenden die Möglichkeit bietet, nach eigener Interessenslage den Textverlauf selbst mitzubestimmen (Landow 1997, 55; Krajewski 1996). Auf diese Weise, so die artikulierte Hoffnung in wissenschaftlichen Texten über Hypertext, werden Lesende partizipativ eingebunden. Die hierarchische Struktur linearer Textformate, welche die Lesenden als reine Konsument_innen versteht, wird durch eine Textualität ersetzt, deren Sinnhaftigkeit auch durch die Handlung der Lesenden kreiert wird. Durch die offen gehaltene Struktur der Hyperlinkvernetzung erfahren sich die Teilnehmenden als Umweltgestaltende, die aktiv Einfluss auf die Konstruktion sozialer Wirklichkeit ausüben können (Berressem 1996, 11; Nestvold 1996, 25).
Anhand des Projektes 'Interdependenzen und Hypertext' wird die Frage gestellt, ob die Grundidee von Intersektionalität – nämlich die Vernetzung bzw. Wechselbeziehungen sozialer Kategorien – durch Hypertextstrukturen besser abgebildet bzw. bearbeitet werden kann.
Projektseminar 'Intersektionalität und Hypertext'
Das Projektseminar 'Intersektionalität und Hypertext' wurde von Katharina Walgenbach und Friederike Reher im Wintersemester 2011/12 an der Bergischen Universität Wuppertal durchgeführt.
Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, wie Intersektionalität bzw. ein Text mit intersektionaler Analyseperspektive durch Hypertextformate bearbeitet werden kann. Es ging darum auszuloten, welche Potenziale Hypertext bereit hält und welche neuen Problemstellungen sich eventuell ergeben.
Für dieses Experiment sollten Studierende einen linear geschriebenen Text zum Thema 'Weiße Identität und Geschlecht' (Walgenbach 2006) in Hypertextstrukturen transformieren. Die Studierenden entwickelten in mehreren Wiki-Projekten erste 'Skizzen', mit denen sie unterschiedliche Herangehensweisen an die Fragestellung erprobten (aus Datenschutzgründen der Lernplattform der Bergischen Universität Wuppertal werden die Wikis hier nicht präsentiert, sondern in ihren zentralen Aspekten erläutert). Auf Basis dieser Skizzen entstand schließlich das Projektexperiment 'Interdependenzen und Hypertext' (Reher/Walgenbach). Die Studierenden führten Lerntagebücher, in denen sie ihren Bearbeitungsprozess darstellten.
Die Lerntagebücher sollten die individuellen Arbeits- und Lernerfahrungen beim Arbeiten mit Hypertext dokumentieren sowie Gruppenprozesse bei der gemeinsamen Umsetzung der Wiki-Projekte beschreiben bzw. reflektieren. Dafür wurden von Studierenden eigene Beobachtungen, Erkenntnisgewinne und Gedanken festgehalten. Ziel der Lerntagebücher war es auch, spezifische Probleme beim Arbeiten mit Hypertext herauszuarbeiten sowie ihre Erfahrungen an kulturwissenschaftliche Publikationen über Hypertexte anzuschließen.
Skizze 1 Wikis und Lerntagebücher
Skizze 2 Wikis und Lerntagebücher
Skizze 3 Wikis und Lerntagebücher
Projektexperiment 'Interdependenz und Hypertext' (Reher/Walgenbach)
Im Projektexperiment wurde ein Hypertextmodell entwickelt, das die 'begriffliche Vernetzungen' des Textes 'Weiße Identität und Geschlecht' (Walgenbach 2006) in Form eines interaktiven 3-D-Graphs darstellt. Auf diese Weise können Wechselbeziehungen zwischen einzelnen inhaltlichen Elementen bzw. bestimmter Theoriegebäude zueinander verdeutlicht und visuell abgebildet werden.
Das Hypertextmodell fußt in seiner Konzeptionalisierung dabei auch auf Ergebnissen des Projektseminars 'Intersektionalität und Hypertext', dass im Wintersemester 2011/12 an der Bergischen Universität Wuppertal durchgeführt wurde.
In dem Artikel 'Weiße Identität und Geschlecht' (Walgenbach 2006) werden anhand der kolonialrassistischen Figur des 'verkafferten Kolonisators' die Wechselbeziehungen von 'Rasse', Klasse und Geschlecht beleuchtet. Die hier präsentierten Blickwinkel basieren zudem auf einer historischen Studie über Weiße Identität, Geschlecht und Klasse in den deutschen Kolonien (Walgenbach 2005). Für das Projektexperiment 'Interdependenzen und Hypertext' wurde demgemäß eine Netzwerkstruktur erstellt, die auf der Grundlage des Artikels 'Weiße Identität und Geschlecht' (Walgenbach 2006) fußt, jedoch hinzukommend auch verweist auf die Monographie 'Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur. Koloniale Diskurse über Geschlecht, >Rasse< und Klasse im Kaiserreich' (Walgenbach 2005). So finden auch die theoretischen Ausführungen der Monographie in weiten Teilen Berücksichtigung in der Hypertextstruktur des Experiments. Desweiteren wurde ergänzend auch auf andere Quellen Bezug genommen.
Intersektionalität verweist stets auf die vernetzenden Aspekte bei der Produktion von sozialer Wirklichkeit. Indem auch Aspekte, die über die Studie von Katharina Walgenbach (2005 sowie 2006) hinausweisen, in der Hypertextstruktur des Projektes angegeben werden, wird angedeutet, dass wissensschaffende Prozesse stets in netzwerkenden Denkbewegungen produziert werden und auf unterschiedliche Theorietraditionen verweisen.
Im Brennpunkt des Interesses stand, wie die Mehrdimensionalität intersektionaler Betrachtungen durch Hypertextstrukturen gewinnbringend dargestellt werden kann. Auch die möglichen Problemfelder einer hypertextuellen Umsetzung wurden bei der Umsetzung reflektiert. Eines der Kernanliegen war es, Hierarchisierungen - die durch Erstnennungen oder Zweitnennungen im konventionellen, linearen Textverlauf entstehen - durch Hypertextualität zu begegnen (=> Problem: Gewichtung der Kategorien).
Dementsprechend wurde ein Zufallsgenerator auf der Eingangseite des Graphens installiert, durch den die Aufzählung unterschiedlicher sozialer Kategorien bei Aufruf der Seite stets in neuer Reihenfolge angezeigt wird. Mit diesem technischen Kunstgriff wurde Linearität und Statik mit der Dynamik und Unvorhersehbarkeit des Zufallsprinzips begegnet und damit sprachliche Hierarchisierung angegriffen. Kritisch einzugestehen sind daneben die Beschränkungen, die beim Versuch, sprachlichen Hierarchisierungen zu begegnen, gesetzt werden mussten: So konnte nur eine gewisse Anzahl sozialer Kategorien thematisiert werden. Dies ist nicht dem expliziten Wunsch, sondern den Bedingungen eines ressourcenbewussten Projektdesigns geschuldet.
Aus der Zusammenführung der Texte zu einer erweiterten Umschau ergeben sich zudem neue Herausforderungen: um der Leser_innenorientierung Rechnung zu tragen, wurden unterschiedliche Bereiche gebildet. So werden die Ebenen 'Einführungstext', 'Studie', 'Forschungsstand', 'historischer Hintergrund', 'Glossar', 'Literaturverzeichnis', und 'Informationen' (farblich) unterschieden, verweisen in ihrer Verwobenheit jedoch aufgrund der Verlinkung weiterhin aufeinander. Mit Hilfe einer Historie kann die_der Leser_in zudem ihren Lesefluss nachvollziehen und dabei selbstbestimmt Vernetzungswege gehen. Komplexitätsbedürfnisse fallen sowohl auf der inhaltlichen Ebene als auch auf der visuellen von Leser_in zu Leser_in different aus. Aus diesem Grund wird mit einer Detaillevel-Navigation die Möglichkeit geboten, sich auf differenten Komplexitätsebenen - unterschieden nach Vernetzungsnähe zwischen dem aufgerufenen und anderen Textbausteinen - zu bewegen.
Die unterschiedlichen technischen Kunstgriffe sollen daneben zu weiteren Projekten inspirieren, mit denen das Paradigma Intersektionalität in digitalen Umgebungen dargestellt wird.
Danken möchten wir den Studierenden des Projektseminars 'Interdependenzen und Hypertext', die uns mit ihren Gedanken und Anregungen wichtige Hinweise für die Gestaltung des Projektexperimentes boten.
Arbeitsmaterial
Diese Texte wurden in Hypertext umgewandelt:
Der Artikel:
Thematische Schwerpunktsetzung: Weiße Identität, Geschlecht und Klasse in den deutschen Kolonien.
Walgenbach, Katharina.: Weiße Identität und Geschlecht. In: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Soziale Ungleichheit - Kulturelle Unterschiede, Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2006 (S. 1-14)
Artikeldownload:
Die historische Studie:
In dieser empirischen Studie wurden Geschlecht, 'Rasse' und Klasse als interdependente Kategorien konzeptualisiert und analysiert. Die Publikation wurde in dem Projektseminar und im Projektexperiment zur Vertiefung herangezogen.
Walgenbach, Katharina: Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur. Koloniale Diskurse zu Geschlecht, 'Rasse' und Klasse im Kaiserreich. Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2005
Inhaltsverzeichnis (PDF):
Literaturverzeichnis
Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix (1977): Rhizom, Merve: Berlin
Krajewski, Markus: Raumgewinn. Schreiben in integrierten Schalt(k)reisen. [letzter Zugriff: 28.03.2012, Adresse: www.verzetteln.de/RaumGewinn.pdf]
Landow, George P. (1997): Hypertext 2.0. Being a revised, amplified edition of Hypertext: The Convergence of Contemporary Critical Theory an Technology, John Hopkins Press: London
Lutz, Helma/ Wenning, Norbert: Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten, in: Dieselben (Hg.) (2001): Unterschiedlich verschieden, Differenz in der Erziehungswissenschaft, Leske + Budrich: Opladen, 11–24
Mayer, Ruth/ Schneck, Ernst-Peter: Hyperkultur – die ganze Welt ist ein Text, in: Klepper, Martin/ Mayer, Ruth/ Schneck, Ernst-Peter (1996): Hyperkultur. Zur Fiktion des Computerzeitalters, de Gruyter: Berlin, New York, 1-13
Nestvold, Ruth: Das Ende des Buches. Hypertext und seine Auswirkungen auf die Literatur, in: Klepper, Martin/ Mayer, Ruth/ Schneck, Ernst-Peter (1996): Hyperkultur. Zur Fiktion des Computerzeitalters, de Gruyter: Berlin, New York, 14-27